42 Jahre Stammkunde
Ich war elf Jahre alt, als ich das erste Mal durch diese Tür trat. Während meine Mutter an der Kasse bezahlte, wühlte ich mit voller Begeisterung durch die ausgelegten Bücher. Ein alter, freundlicher Mann streichelte meine Haare und gab mir somit das Zeichen einer Freundschaft, die sich in den nächsten Jahren entwickeln sollte. Türk Alman Kitapevi, die türkisch-deutsche Buchhandlung befindet sich auf einer der wichtigsten Straßen in Istanbul, Richtung Tunnel. Sie ist die wichtigste Quelle für deutsche Literatur in dieser Stadt. Diese Buchhandlung sollte für den Rest meines Lebens eine der am häufigsten besuchten Orte für mich werden. Meine Beziehung zu dieser türkisch-deutschen Buchhandlung, die mit dem Kauf von Lehrbüchern begann, beläuft sich mittlerweile auf 42 Jahre. Selbst als ich in Haft war, wurde diese Beziehung nicht unterbrochen.
Das erste belletristische Buch, das Franz Mühlbauer mir schick verpackte, war das Buch „Emil und die Detektive“ von Erich Kästner. Wenn ich nun einen Blick auf meine Bibliothek werfe, stelle ich fest, dass ich die Hälfte meiner Bücher bei Familie Mühlbauer eingekauft habe. Anfangs bei Franz, dann bei Joseph und Thomas Mühlbauer. Fangen wir bei Franz Mühlbauer an. Diesen Mann mit harter Schale und weichem Kern mochte ich sehr.
Er kam als Zirkusmitarbeiter nach Istanbul. Da ihn diese Stadt tief beeindrucke, verabschiedete er sich von seiner Heimat Österreich, die in der Nachkriegszeit mit ökonomischen Problemen zu kämpfen hatte. Anfangs arbeitete er in der Buchhandlung einer alten Dame. Als diese krank wurde, benötigte sie einen Pfleger. Also gaben sie eine Kleinanzeige auf, auf die sich eine junge Frau aus Deutschland meldete. Nach ihrer Ankunft und dem Beginn ihrer Arbeit bei der alten Dame heiraten Franz und Marlene. Sie bekommen drei Kinder. Franz eröffnet die türkisch-deutsche Buchhandlung im Tunnel. Doch im Laufe der Zeit erlebt das Paar Probleme. Marlene und die drei Kinder kehren nach Deutschland zurück. Im Jahre 1991 endet das Leben von Franz Mühlbauer aufgrund eines Herzinfarkts.
Bis 1991 hatten wir Schüler uns viel mit Herrn Mühlbauer unterhalten. Viele Schüler des österreichischen oder deutschen Gymnasiums kamen getrieben durch den Lehrplan in seine Buchhandlung. Doch nicht jeder wurde Stammkunde bei ihm. Herr Mühlbauer wusste, dass die Liebe zu den Büchern oder der Literatur nicht bei jedem nachhaltig war. Er mochte diejenigen Schüler besonders gern, die bei ihm auch nach Schulabschluss Bücher kauften. Dabei hatte er keine kommerziellen Hintergedanken. Das konnte man von seinen Augen ablesen.
Als ich in die Sekundarstufe kam, bestellte ich immer mehr literarische Bücher als Lehrbücher. Als ich anfing zu studieren, kamen parallel zu den damaligen politischen Ereignissen immer mehr sozialkritische, politische oder philosophische Bücher auf meine Bücherliste. Ich bestellte Bücher von Habermas oder Benjamin aus Deutschland. Wenn das Buch ankam, riefen Herr Mühlbauer oder seine Mitarbeiter bei uns an. Ich rannte dann regelrecht in die Buchhandlung auf der Istiklal Straße. Zugegeben, damals sah man in den linken Kreisen, zu denen ich auch gehörte, die Lektüre von theoretischen Büchern nicht so gerne. Jetzt ist es natürlich ganz anders.
Während meines Wehrdienstes stellte ich wöchentlich eine Büchereinkaufsliste zusammen, kaufte diese an meinen freien Tagen bei Herrn Mühlbauer und arbeitete während dieser Zeit als Dolmetscher für deutsche Ingenieure. Als ich sie dann nach Istanbul begleitete, überzeugte ich sie zuerst davon die türkisch-deutsche Buchhandlung zu besuchen, um sie anschließend zu den Teppichläden nach Nuruosmaniye zu fahren.
Als ich in Haft saß, gab ich meine Bücherbestellungen meiner Mutter. Die finanziellen Mittel in der Haft waren natürlich sehr begrenzt und ich konnte die deutsche Literatur nicht tagtäglich verfolgen. Aber gute Literatur ist sowieso zeitlos. Meine Mutter brachte mir alle zwei Wochen die Bücher und übergab sie den Direktoren der Haftanstalt. Diese prüften sie dann, obwohl ich nicht wirklich weiß wie. Nach der Prüfung übergaben sie mir dann nur einen Teil der Bücher. Den Rest habe ich nach meiner Freilassung erhalten.
Nach dem Tod von Herrn Mühlbauer kamen Joseph und Thomas Mühlbauer nach Istanbul, um die Bücherei zu verwalten. Joseph interessierte sich viel mehr für das Meer, sodass Thomas das ganze Geschäft übernahm. Auf diese Weise haben wir uns auch kennengelernt.
Als ich kürzlich mit dem Team der Deutschen Welle in diesem Laden war und zwischen den Regalen spazierte, fielen mir wieder viele Erinnerungen ein. Dieser Laden bedeutet mir unendlich viel. Bei der Gelegenheit ist mir auch etwas aufgefallen: Von allen Büchern von Thomas Mann und Thomas Bernhard, habe ich ein Exemplar in meiner eigenen Bibliothek. Ich musste einfach grinsen.