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Abenteuer Sport

mit Stefan Nestler

Gelesen: Schwarzes Wasser

Ich war weit weg. Die Frau mit dem Ausweis am Band um den Hals stupste mich an. Ich entschuldige mich, kramte meine Bahnfahrkarte heraus und zeigte sie ihr. Ich saß im Zug, hörte auf dem Kopfhörer Musik, aber eigentlich auch wieder nicht. Denn ich las das kleine, aber feine Büchlein „Schwarzes Wasser“ von Thomas Ulrich und Birgit Lutz. Ich kannte diese wahre Geschichte. Schließlich war Thomas im Frühjahr 2009 mein Expeditionsleiter, der es mir ermöglichte, auf Skiern, einen Schlitten hinter mir herziehend, den Nordpol zu erreichen. Vor, während und nach unserem Ausflug auf das arktische Eis hatten wir viel Zeit, unsere Lebensgeschichten auszutauschen. Und diese war eine, die Ulrich tief geprägt hat.

Allein auf der Eisscholle

Im Frühjahr 2006 wollte der Schweizer die gesamte Arktis durchqueren, solo, ohne Unterstützung von außen, 1800 Kilometer von der russischen bis zur kanadischen Küste. Doch es ging gleich zu Beginn der Expedition so ziemlich alles schief, was schief gehen konnte. Der Hubschrauberflug zum Startpunkt seines Marsches verzögerte sich. Damit verschlechterten sich die Eisbedingungen. Trotzdem zog Ulrich los. Einen Tag später saß der Abenteurer fest. Im Sturm, auf einer gerade mal 20 Zentimeter dicken Eisscholle, die – soviel war klar – nicht mehr allzu lange halten würde. Per Satellitentelefon versuchte Thomas, Hilfe herbeizurufen. Doch die Mühlen der russischen Bürokratie mahlten langsam. Ulrich war klar, er würde sehr viel Glück brauchen, um dieses Abenteuer zu überleben. 89 Stunden schlief er nicht. Dann …

Schleimigschmierigschwappend“

Nein, mehr wird nicht verraten. Es war nicht nur das Eis, das unter Ulrich wegbrach. Sein ganzes Leben geriet aus den Fugen, weil ihm plötzlich klar wurde, dass er auch im normalen Alltag nicht mehr so weitermachen konnte wie bisher. Die Journalistin Birgit Lutz, selbst eine Arktis-Abenteurerin, erzählt Thomys spannende Geschichte mit viel Fingerspitzengefühl und einer bildgewaltigen Sprache. Habt ihr schon mal ein „schleimigschmierigschwappendes Geräusch“ gehört, das entsteht, wenn Eisschollen „aneinanderreiben, quietschen und sausen“?

Die Frau im Zug mit dem Ausweis um den Hals war übrigens gar keine Kontrolleurin, sondern eine Frau auf Dienstreise. Sie wollte mich nur bitten, meinen Rucksack wegzunehmen, damit sie sich neben mich setzen konnte. Als ich ihr meine Fahrkarte zeigte, sorgte ich für Heiterkeit im Abteil. „Da sehen sie mal, wie weit ich gerade weg war“, erklärte ich mein verpeiltes Verhalten und zeigte auf mein Buch: „Ich war in der Arktis, auf einer Eisscholle.“

Datum

4. Juni 2017 | 16:36

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