Erstmals über 5000 Meter
Verdammt, nicht jetzt! Gerade habe ich aus dem Gletscherbruch ins sanft ansteigende Gelände gequert, da bildet sich mein Schlafsack ein, er sei ein Fußball. Er rutscht aus dem Rucksackdeckel und hüpft munter bergab. Instinktiv rase ich hinterher. Mit dem schweren Gepäck auf dem Rücken und den klobigen Expeditionsschuhen an den Füßen sehe ich wahrscheinlich aus wie ein Michelin-Männchen beim Joggen. 20 Meter tiefer habe ich den blöden Sack eingeholt und stoppe ihn mit dem rechten Fuß. Auf etwa 4400 Metern wirkt so eine Sprinteinlage mit Gepäck, als hätte dir jemand den Sauerstoffhahn zugedreht. Ich schnappe nach Luft und brauche ein, zwei Minuten, bis sich mein Puls wieder beruhigt hat und ich gleichmäßig atme. Immerhin war ich schneller als der Schlafsack. Andernfalls hätte ich noch gut 100 Meter tiefer steigen können, ehe seine Talfahrt im abflachenden Gelände ein Ende gefunden hätte.
Und noch weiter hoch
Es fällt mir schwer, jetzt wieder meinen Rhythmus zu finden. Doch es gibt keine Alternative. Unser Zwischenlager, in dem wir die heutige Nacht verbringen, liegt auf 4850 Metern, also Mont-Blanc-Höhe. Schritt für Schritt, ausreichend Serpentinen laufen, bloß nichts übertreiben! Als ich im Lager eintreffe, hat mein Zeltpartner Sven bereits einen perfekten Platz gefunden und das Zelt aufgeschlagen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, doch Sven ist einfach deutlich schneller als ich. Mit seinem Tempo kann ich nicht mithalten. Und nichts ist beim Höhenbergsteigen schädlicher als falscher Ehrgeiz. Eine Stunde, nachdem ich eingetroffen bin, animiert uns Luis, noch etwas höher zu steigen, getreu dem alten Höhenbergsteiger-Motto, um der Höhenkrankheit vorzubeugen: „Climb high, sleep low!“ „Schnappt euch einfach noch ein bisschen Expeditionsmaterial wie ein Zelt oder eine Fixseil-Rolle“, sagt Luis. „Ich will weiter oben noch ein Depot anlegen. Alles, was wir schon dort haben, brauchen wir morgen nicht mehr heraufzutragen.“
Willkommene Hilfe
Ich packe mein Klettermaterial und den Eispickel in den Rucksack und obendrauf noch eine Seilrolle. Der Hügel ist ein steiler Schutthaufen, bei dem wir unsere Schritte sehr bewusst setzen müssen. Schließlich geht es rechts und links mehrere hundert Meter hinunter. Nach gut hundert Höhenmetern merke ich, dass ich mich mit der Seilrolle übernommen habe. „Gib sie mir!“, bietet Jürgen an, der zu mir aufgeschlossen hat. Immer wieder bewundere ich, wie viel Jürgen schleppen kann, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Einfach stark. „Wir kommen nur auf diesen Berg, wenn wir als Team zusammenarbeiten“, wiegelt Jürgen ab. „Irgendwann habe ich mal einen schlechten Tag, und dann bin auch ich auf Hilfe angewiesen.“ „Und ich trage dich dann auf meinen Schultern zum Gipfel“, scherze ich.
Fall für den Arzt
Wir erreichen das Depot auf 5080 Metern. Für mich und einige andere ist hier für heute Endstation. Ich hocke mich auf einen Felsen und genieße die traumhafte Aussicht hinüber zum über 7546 Meter hohen Mustagh Ata. Das Pulsoxymeter zeigt bei mir unmittelbar nach der Ankunft eine Sauerstoffsättigung von 82 Prozent und einen Puls von 120 Schlägen. Auf Meereshöhe wäre ich ein Fall für den Arzt. Hier sind die Werte nicht außergewöhnlich. Ich erhole mich rasch, der Puls sinkt. Luis steigt mit den Stärksten im Team, Sven, Jürgen und André, noch weiter bis auf eine Höhe von 5260 Metern. Die vier deponieren dort insgesamt 800 Meter Fixseil. Auch Churchy ist inzwischen an meinem Aussichtspunkt angekommen. „Halleluja!“, freut er sich. „Selbst wenn wir nicht auf den Gipfel kommen sollten, allein für dieses Panorama hat sich die ganze Reise schon gelohnt.“
Hauptsache Kalorien!
Wir benötigen nur eine halbe Stunde, um den Schotterberg wieder hinunter zu rutschen. Im Zwischenlager angekommen, setzen wir unsere Gaskocher in Gang und bereiten vor unseren Zelten das Abendessen zu: kalorienreiche Expeditionsnahrung, die mit kochendem Wasser überschüttet wird und fünf Minuten später essbereit ist. Morgen werden wir um sechs Uhr aufstehen. Nach dem Frühstück wollen wir zu unserem geplanten Lager 1 auf etwa 5500 Metern aufsteigen, dort Material deponieren und dann wieder bis ins Basislager absteigen. Diesmal werde ich meinen Schlafsack besser festzurren. Denn hier oben kann ich nicht mal eben hinter ihm her sprinten, wenn er wieder meint, als Fußball sei es auch ganz lustig.