Gelesen: Besser Tiger als Schaf
Heute möchte ich euch zu einer Zeitreise einladen. Nicht ins Jahr 1991, in dem heute vor 25 Jahren Ötzi aus dem Gletschereis gesägt wurde (das könnt ihr heute überall nachlesen 😉 ). Nein, noch weiter zurück: in die 1970er Jahre, als Himalaya-Bergsteiger noch „Freibeuter“ waren, wie es John Porter beschreibt. Der gebürtige US-Amerikaner ging damals nach Großbritannien, um nicht nach Vietnam zu müssen, und tauchte in die britische Kletterszene ein, die damals wirklich wie ein Piratenschiff wirkte: ein Haufen junger Kerle, wild, frech, ambitioniert, mittellos, auf Berg-Beute aus. Porter freundete sich mit Alex MacIntyre an und begann mit ihm zu klettern – bis zu MacIntyres Tod 1982 an der Annapurna-Südwand. Alex wurde nur 28 Jahre alt. John Porter hat lange mit sich gerungen, ehe er zur Feder griff, um seine Erinnerungen an seinen alten Freund und Bergpartner mit der Öffentlichkeit zu teilen. Im englischsprachigen Original ist das Buch bereits preisgekrönt, dank Jochen Hemmlebs Übersetzung liegt es jetzt auch in deutscher Sprache vor.
Fels wie Marmorkuchen
Nachdem sie an den Felswänden Großbritanniens und der Alpen zu starken Kletterern gereift sind, schließen sich MacIntyre und Porter Ende der 70er Jahre – mitten im kalten Krieg – mit den polnischen Bergsteiger-„Freibeutern“ um Wojciech, genannt „Voytek“ Kurtyka zusammen, um gemeinsam den Hindukusch und den Himalaya unsicher zu machen. 1977 durchsteigen sie als Erste die Nordostwand des über 6800 Meter hohen Kuh-e Bandaka, über Fels „wie krümeliger alter Marmorkuchen“ (Porter), während um sie herum so viele Steine herunterdonnern, dass sie sich vorkommen wie in einem „Zyklotron“, einem Teilchenbeschleuniger. Beinahe noch gefährlicher wird das Nachspiel der Expedition in Afghanistan, über das ich an dieser Stelle jedoch nichts verrate.
Nur Pech?
MacIntyre wird als Kletterer immer besser, besonders im Eis. Er progagiert und praktiziert den Alpinstil: sauber, schnell, leicht, im kleinen Team. Weitere Erfolge schließen sich an: Die Erstbegehung des Südsporns am Changabang in Indien (6864 Meter), der Ostwand des Dhaulagiri (8167 Meter) – und der Südwand der Shishapangma (8027 Meter). Spätestens mit diesem letztgenannten Coup ist Alex in der absoluten Weltspitze der Kletterer angekommen. Und er will noch eins draufsetzen: an der Annapurna-Südwand. Ist es wirklich nur Pech, dass ihn ein Stein tödlich am Kopf trifft? Zu Füßen des Achttausenders erinnert eine Gedenktafel an Alex MacIntyre, darauf die Aufschrift: „Es ist besser, einen Tag als Tiger gelebt zu haben, als tausend Jahre lang als Schaf.“ Die Kurzfassung dieser tibetischen Weisheit („Lieber Tiger als Schaf“) ist der Titel von John Porters Buch, das ihr euch wirklich nicht entgehen lassen solltet.