48 Stunden, zwei deutsche Frauen, ein Gipfel: Mount Everest
Viel hätte nicht gefehlt, und die beiden deutschen Bergsteigerinnen hätten sich auf dem Dach der Welt die Hände schütteln können. Innerhalb von 48 Stunden erreichten im vergangenen Frühjahr erst Ingrid Schittich, dann Susanne Müller-Zantop den 8850 Meter hohen Gipfel des Mount Everest: Schittich am 15. Mai von der tibetischen Nordseite, Müller-Zantop am 17. Mai von der nepalesischen Südseite aus. Sie wussten nichts voneinander. Erst Billi Bierling, Chefin der Bergsteigerchronik „Himalayan Database“, machte die beiden darauf aufmerksam, dass sie sich auf dem Everest knapp verpasst hatten.
Älteste deutsche Frauen auf dem Everest
Eine weitere Gemeinsamkeit von Ingrid und Susanne ist, dass beide Bergsteigerinnen schon jenseits der 60 sind. Mit 63 Jahren ist Schittich nun die älteste deutsche Frau, die jemals den Gipfel des höchsten Bergs der Erde erreichte, Müller-Zantop mit 61 die zweitälteste. Der Kreis ist ohnehin ziemlich exklusiv. Vor der Frühjahrssaison 2018 hatten lediglich neun andere deutsche Bergsteigerinnen den Everest bestiegen – in der Mehrzahl deutlich jünger als Ingrid und Susanne. Auch in ganz Europa dürften die beiden unter den Everest-Besteigerinnen an der Spitze der Alterspyramide stehen (die Daten für das Frühjahr 2018 sind noch nicht veröffentlicht). Die weltweit bisher älteste Frau auf dem Everest war 2012 die damals 73-jährige Japanerin Tamae Watanabe.
Seven Summits komplettiert
Sie habe zeigen wollen, „dass man auch im fortgeschrittenen Alter noch eine hohe körperliche Leistungsfähigkeit erreichen kann“, sagt Ingrid Schittich, die erst mit 49 Jahren begann, ernsthaft bergzusteigen. Für sie war es der dritte Anlauf am Everest: 2016 hatte sie – ebenfalls auf der Nordseite des Bergs – auf 7000 Metern, 2017 auf 7650 Metern umkehren müssen. Beide Male ging es ihr schlecht. Mit ihrem Gipfelerfolg in diesem Frühjahr komplettierte die 63-Jährige ihre Sammlung der „Seven Summits“, der höchsten Berge aller Kontinente.
Tiefe Zufriedenheit
„Beim Aufstieg dachte ich nur an die Anstrengung und es kamen auch Gedanken auf wie: Das mache ich nie wieder!“, erinnert sich die Ärztin aus München. „Am Gipfel war ich glücklich und empfand eine tiefe Zufriedenheit, dass ich mein Ziel erreicht hatte.“ Ingrid konnte den Moment auch wirklich genießen, da sie und ihre vier Gefährten aus dem Team des Schweizer Expeditionsveranstalters „Kobler & Partner“ auf dem Nordostgrat „ohne Staus oder Beeinträchtigungen durch andere Bergsteiger unterwegs“ waren. „Auch am Gipfel waren wir allein.“
Werbeplakat für Kosmetik am Gipfel
So hätte auch Susanne Müller-Zantop gerne den Augenblick auf dem höchsten Punkt der Welt erlebt. Doch es kam ganz anders. „Ich war beim Aufstieg glücklich und ungestört, habe nur wenig Leute getroffen“, sagt die deutsche Unternehmerin, die in Zürich in der Schweiz lebt. „Der Gipfel war dann ein Schock, ich starrte als Erstes auf ein Werbeplakat für chinesische Damenkosmetik. Es gab kaum Platz, so voll war es. Mein Sherpa zog Mantel, Schwert und Kappe eines Lama aus dem Rucksack, zog schnell alles über und filmte sich selbst. Ich war enttäuscht, es gab keine Möglichkeit für Ruhe, Umschau oder auch Andacht.“ Nach einer Viertelstunde ergriff Susanne die Flucht von dieser „Marketing-Plattform“, wie sie es nennt.
Fitter als früher
Wie Ingrid Schittich war auch Müller-Zantop in Sachen extreme Höhe eine Spätberufene. 2016 bestieg sie den Cho Oyu. „Ich habe erst mit 60 die Achttausender-Welt entdeckt“, sagt Susanne. „Vielleicht bin ich jetzt erst reif dafür. Ich glaube, dass ich jetzt mental super stark bin, viel stärker als früher.“ Auch mit der Fitness habe sie am Everest keine Probleme gehabt. „Ich glaube, dass man kräftemäßig überhaupt nicht abbauen muss im Älterwerden. Ich bin vielleicht sogar stärker und fitter als früher.“
Ängste überwunden
Die Erlebnisse am Everest wirken bei beiden Bergsteigerinnen noch nach. „Man findet alles: lebende Legenden, junge Wilde, Abenteuersüchtige, Rekordsüchtige, Sinnsucher, und Touristen wie mich“, sagt Susanne Müller-Zantop. „Ich nehme viele Bilder mit und die Dankbarkeit dafür, dass ich zu den Privilegierten gehöre, die in ihrem Leben auf dem höchsten Punkt der Erde stehen durften. Ich nehme auch mit, dass ich mit meinen Ängsten (noch) besser umgehen kann als vorher. Und ich hatte wirklich viel Angst unterwegs.“
Anstrengung schnell vergessen
Ingrid Schittich war erstaunt, „dass nach zwei Tagen im Tal alle Anstrengung vergessen war und ich bereits überlegte, welche anspruchsvollen Gipfel ich noch bewältigen könnte. Zuvor habe ich es noch nie erlebt, dass eine Anstrengung so schnell vergessen ist.“ Sehr präsent ist dagegen noch das Erfolgserlebnis vom Mount Everest: „Das Glücksgefühl hält bisher immer noch an.“