Hat Nobukazu Kuriki die Schraube überdreht?
Was hatte Nobukazu Kuriki am Everest wirklich vor? Diese Frage treibt mich um, seitdem der 35 Jahre alte Japaner am 21. Mai auf einer Höhe von rund 6600 Metern tot aufgefunden wurde. Aus seinem exakten Plan hatte Nobukazu in den Wochen zuvor ein Rätsel gemacht. Er habe durch die Südwestwand klettern wollen, teilte sein Büro nach Kurikis Tod mit. Im Alleingang und ohne Flaschensauerstoff, wie er es sich auf die Fahne geschrieben hatte? Hätte Nobukazu nur eine von beiden Bedingungen erfüllt, hätte er schon Everest-Geschichte geschrieben.
Nur ein Südwestwand-Erfolg ohne Atemmaske
Seit der Erstbegehung durch die Briten Doug Scott und Dougal Haston im Herbst 1975 haben insgesamt erst rund 30 Bergsteiger die Südwestwand erfolgreich durchklettert – nur einmal ohne Flaschensauerstoff: Jozef Just erreichte im Herbst 1988 als einziger Bergsteiger eines vierköpfigen slowakischen Teams den Gipfel. Beim Abstieg kamen er und drei weitere Teamkollegen ums Leben. Einen ernsthaften Soloversuch durch die steile und gefährliche Südwestwand hatte es vor Kurikis Einstieg noch niemals zuvor gegeben. Der Slowake Vladimir Strba hatte zwar für das Frühjahr 2017 einen Alleingang angekündigt, nachdem er im Vorjahr mit seinem Landsmann Zoltan Pal in der Wand auf 7200 Metern hatte umkehren müssen. Strba schwenkte dann jedoch auf die Normalroute um. Der 48-Jährige starb am Südsattel an Höhenkrankheit, nachdem er zuvor ohne Atemmaske bis zum Südgipfel auf 8750 Metern aufgestiegen war.
Wie krank war Kuriki wirklich?
Allein vor diesem Hintergrund musste Kurikis Erfolgschance als extrem niedrig eingestuft werden – selbst wenn er topfit gewesen wäre. Doch das war der Japaner nicht. Nachdem er im Basislager eingetroffen war, hatten ihn starker Husten und Fieber gebremst. Zwei Tage vor seinem Tod sagte Kuriki, er habe noch immer leichten Husten. Der sei aber fast weg. Kuriki stieg in die Wand ein und schlug auf 7400 Metern sein Lager auf. Dort versicherte er per Funk, dass er vorsichtig sein werde. In der Nacht muss sich sein Zustand jedoch verschlechtert haben. Am nächsten Morgen teilte sein Team mit, Kuriki sei krank und steige deshalb ab. Danach gab es kein Lebenszeichen mehr von ihm. Mitglieder des Kamerateams, das seinen Aufstieg von den Hängen des Nuptse aus filmen sollte, stiegen ihm entgegen und fanden schließlich Nobukazu. „Aufgrund des Zustands seines Körpers ist davon auszugehen, dass er wahrscheinlich 100 bis 200 Metern abgerutscht ist“, teilte Kurikis Büro mit.
Latte eher höher als niedriger gelegt
Hatte Kuriki wirklich daran geglaubt, dass er die Südwestwand meistern könnte? Das könne er sich nicht vorstellen, sagte der japanische Bergsteiger Ken Noguchi der Zeitung „Asahi Shimbun“: „Mir erscheint es, als sei sein Ziel irgendwann nicht mehr gewesen, den Gipfel zu erreichen, sondern sich den härtesten Bedingungen auszusetzen, die man sich vorstellen kann, und diese Erfahrung mit den Menschen zu teilen.“ Auch Kurikis sieben vorhergehenden Versuche am Everest, sechs davon im Herbst, wirkten häufig, als überschätze er seine Fähigkeiten. 2012 zog er sich bei einem Versuch über den Westgrat schwere Erfrierungen zu. Neun seiner zehn Finger mussten amputiert werden. Trotzdem kehrte er zum Everest zurück, erst auf die Normalroute auf der Südseite, wo er 2015 alleine war, dann zur Nordwand, schließlich zur Südwestwand. Statt die Latte niedriger zu legen, steigerte Kuriki seine Ambitionen eher noch.
Unrealistische Ziele
„Er hätte eine gute Gipfelchance ohne Flaschensauerstoff gehabt, wenn er die Route über den Südostgrat (die Normalroute) genommen hätte“, sagte der mit Nobukazu befreundete Bergsteiger Yasuhiro Hanatani. „Aber das hätte den Verzicht auf einen Alleingang bedeutet.“ Offenkundig stand Kuriki auch unter Druck. Ein japanischer Freund erzählte mir, dass die einheimischen Medien mit der Zeit das Interesse an dem 35-Jährigen verloren hätten, weil er stets große Pläne schmiedete, die realistisch betrachtet keinen Erfolg versprachen. Möglicherweise hat Nobukazu Kuriki am Ende die Schraube einfach überdreht – was an den höchsten Bergen der Erde häufig tödlich endet.