Der „Schneeleopard“ vom Mount Everest
Ang Rita Sherpas Everest-Rekord könnte einer für die Ewigkeit sein. Der legendäre Bergsteiger aus Nepal, den die Einheimischen ehrfurchtsvoll „Schneeleopard“ nennen, ist inzwischen 70 Jahre alt. Kein anderer hat den höchsten Berg der Erde so häufig ohne Flaschensauerstoff bestiegen wie Ang Rita in den 1980er und 90er Jahren. „Sein Rekord von neun (Besteigungen ohne Atemmaske) wird wahrscheinlich für eine lange Zeit bestehen bleiben, weil die Expeditionsanbieter inzwischen von den Climbing Sherpas verlangen, dass sie Sauerstoff benutzen“, schreibt mir Richard Salisbury von der Bergsteiger-Chronik „Himalayan Database“.
Nicht zehnmal
Kürzlich hatte ich über die bemerkenswerte Leistung des pakistanischen Bergsteigers Fazal Ali berichtet, der im Sommer als Erster zum dritten Mal ohne Flaschensauerstoff auf dem Gipfel des K 2, des zweithöchsten Bergs der Erde, gestanden hatte. Dabei fiel mir Ang Rita ein, der Everest-Rekordhalter. Ich hatte im Hinterkopf, dass er zehnmal ohne Atemmaske zum Gipfel aufgestiegen sei. So steht es in Zeitungs- und Internetartikeln und in Büchern, u.a. dem Guinness-Buch der Rekorde. Auch er selbst hat stets diese Zahl genannt. Streng genommen ist sie allerdings nicht korrekt, wie ich bei der Recherche in der „Himalayan Database“ feststellte und wie es mir Richard Salisbury bestätigte.
Sauerstoff zum Schlafen am Südsattel
Ang Rita ist zwar in der Tat zehnmal ohne Flaschensauerstoff zum höchsten Punkt der Erde auf 8850 Metern aufgestiegen, doch bei seinem ersten Erfolg im Mai 1983 nutzte er sowohl vor, als auch nach dem Gipfelgang zum Schlafen in Lager 4 eine Atemmaske. Darauf machte seinerzeit der US-Bergsteiger David Breashears aufmerksam. Er habe im Frühjahr 1983 am Südsattel mit Ang Rita in einem Zelt gelegen, so Breashears, und sie hätten über ein Y-Verbindungsstück dieselbe Sauerstoffflasche genutzt.
Riesenrespekt vor Ang Rita
Breashears, der in seiner Karriere fünfmal den Everest mit Atemmaske bestieg, betonte gegenüber der legendären Himalaya-Chronistin Elizabeth Hawley (1923-2018), dass er keinesfalls die überragende Leistung Ang Ritas schmälern wolle. Schließlich sei der Sherpa am Gipfeltag 1983 ohne Flaschensauerstoff zum Gipfel gestiegen. „Ich kann mir keinen stärkeren Kletterpartner oder Sherpa vorstellen, vor dem ich mehr Respekt hätte als vor Ang Rita“, schrieb Breashears. Bei den folgenden neun erfolgreichen Everest-Aufstiegen verzichtete der legendäre Sherpa dann auch beim Schlafen in großer Höhe auf eine Atemmaske.
19 Achttausender-Erfolge
Ang Rita wurde 1948 in Yilajung, einem kleinen Dorf im Khumbu im Osten Nepals geboren. Als Kind hütete er Yaks. Mit 15 Jahren arbeitete der Sherpa erstmals als Träger bei einer Expedition. Seinen ersten Achttausender bestieg Ang Rita 1979: den Dhaulagiri. Insgesamt brachte es Ang Rita bis zu seinem Karriereende im Jahr 1999 auf 19 Achttausender-Gipfelerfolge: Zehnmal Everest, viermal Cho Oyu, dreimal Dhaulagiri, einmal Kangchendzönga und einmal Makalu. Stets verzichtete er komplett auf Flaschensauerstoff – mit einer Ausnahme: bei der erwähnten Expedition 1983.
Nächtliche Aerobic-Übungen auf 8600 Metern
Der „Schneeleopard“ setzte Everest-Meilensteine. So eröffnete er 1984 mit den Slowaken Zoltan Demjan und Jozef Psotka eine neue Routenvariante über den Südpfeiler. Beim Abstieg stürzte Psotka in den Tod. Am 22. Dezember 1987 gelang Ang Rita die erste und bisher einzige Winterbesteigung des Everest ohne Atemmaske. Mit dem Koreaner Heo Young-ho, der Flaschensauerstoff atmete, erreichte der Sherpa den höchsten Punkt. Bei schlechtem Wetter waren die beiden Bergsteiger zu einem Biwak auf 8600 Metern gezwungen. „Wir verbrachten die Nacht knapp unterhalb des Gipfels“, erinnerte sich Ang Rita später, „und machten Aerobic-Übungen, um körperlich aktiv zu bleiben. Nur so kannst du dort oben überleben.“
P.S.: Ang Ritas Söhne bestiegen ebenfalls mehrmals den Everest – mit Flaschensauerstoff: der 1971 geborene Karsang Namgyal Sherpa neunmal, Chewang Dorje Sherpa (1975 geboren) fünfmal. Karsang starb 2012 im Everest-Basislager, offenbar an den Folgen einer Alkoholvergiftung.