Wie der kleine Prinz auf den Pumori
„Der kleine Prinz stieg auf einen hohen Berg“, schrieb der französische Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry in seiner 1943 erschienenen, weltberühmten Erzählung „Der kleine Prinz“. „Von einem Berg so hoch wie diesem, dachte er, kann ich in einem Augenblick den ganzen Planeten und die ganze Menschheit überschauen. Aber er sah nichts weiter als die Nadeln spitzer Felsen.“ Zsolt Torok, Teofil Vlad und Romeo (genannt „Romica“) Popa dürften weniger überrascht gewesen sein, als sie im vergangenen Herbst auf dem 7161 Meter hohen Gipfel des Pumori standen und nichts anderes sahen als direkt gegenüber die Achttausender Mount Everest und Lhotse sowie den Siebentausender Nuptse. Die drei Bergsteiger aus Rumänien hatten gerade im Alpinstil – also ohne Einsatz von Sherpas, ohne Flaschensauerstoff und ohne feste Lagerkette – eine neue Route durch die Südostwand eröffnet. Sie tauften sie „Le Voyage du Petit Prince“ (die Reise des kleinen Prinzen). Ich habe Zsolt Torok gefragt, warum ihre Wahl auf diesen Namen fiel.
Die Komfortzone verlassen
„Wegen der Unschuld und Wahrhaftigkeit des Herzens des kleinen Prinzen“, antwortet mir der 45-Jährige. „Wenn er eine Frage stellte, gab er nie auf, bis er eine Antwort erhielt. War er hartnäckig? Oder fühlte er sich der Wahrheit verpflichtet? Auf seiner Reise traf er viele Charaktere. Genau wie wir auf unserer Reise. Und genau wie er mussten auch wir unsere Komfortzone verlassen, um das Wesentliche herauszufinden. Um es auf dem Planeten Pumori zu entdecken.“
Fünf Biwaknächte in der Wand
Die Mixedkletterei zwischen dem Einstieg in die Südostwand auf 5600 Metern und dem Ausstieg auf den Gipfelgrat auf 6700 Metern sei vergleichbar mit der Eigernordwand gewesen – „mit ähnlichen Passagen wie der ‚Rampe‘, der „Weißen Spinne‘ oder dem ‚Wasserfallkamin.“ Fünf Nächte verbrachte das rumänische Trio in der extrem steilen Wand. „Geeignete Biwakplätze fehlten. Wir waren gezwungen, die unmöglichsten Stellen herzurichten.“ Zsolt war die Route im Frühjahr 2017 schon einmal mit seinem Landsmann Vlad Capusan angegangen, hatte den Versuch jedoch wegen zu hoher Lawinengefahr abgebrochen.
„Keine vertikale Arena, eher ein Heiligtum“
Diesmal glückte das Unternehmen. Torok bezeichnet die Erstbegehung der Route als „meinen bis dato größten Erfolg, weil eine Weltpremiere wertvoller ist als eine Wiederholung einer Route.“ Dennoch will der 45-Jährige den Coup des rumänischen Trios nicht zu hoch hängen: „Eigentlich bin ich kein Freund der Jagd nach Erstbegehungen, weil die Berge nicht als vertikale Arena betrachtet werden sollten. Sie sind eher so etwas wie ein Heiligtum. Traditionelle Routen wurden von großartigen Bergsteigern gemeistert. Sie sind, genauso wie Evergreens in der Musik, immer wertvoll.“ Das „romantische Bergsteigen“, zu dem sich Zsolt nach eigenen Worten hingezogen fühlt, „verschwindet allmählich aus den Seelen der Menschen und wird durch den Durst nach dem Extremen ersetzt“.
Auf Nanga Parbat und Saldim Ri
2012 bestieg Torok mit seinen Landsleuten Teofil Vlad, Marius Gane und Aurel Salasan den Nanga Parbat. Es war sein erster Achttausender-Erfolg nach gescheiterten Versuchen am Cho Oyu (2006) und am K 2 (2010). 2016 gelang ihm in Nepal mit Vlad Capusan die Erstbesteigung des 6374 Meter hohen Saldim Ri (auch Peak 5 genannt) nahe dem Achttausender Makalu.
Ursprünglich wollte Zsolt im Frühjahr 2015 den Mount Everest besteigen. Doch die Saison endete, bevor sie richtig begonnen hatte – nach dem verheerenden Erdbeben in Nepal und der dadurch am Pumori ausgelösten Lawine, die das Everest-Basislager zerstörte und 19 Menschen das Leben kostete. Dieses Erlebnis habe er während der Besteigung des Pumori völlig ausgeblendet, schreibt mir Zsolt. „Es ist wie beim Autofahren. Hältst du erst einmal das Lenkrad in deinen Händen, hast du auch das Vertrauen und die Zuversicht für jede Reise.“
Everest bleibt ein Ziel
Der Everest, den er während des Aufstiegs auf den Pumori ständig im Blick hatte, bleibt für Zsolt Torok auch weiterhin ein Ziel, weil „ich wie der kleine Prinz niemals meine Träume und meine Fragen aufgeben werde“. Wenn es so weit sei, wolle er über die Normalroute auf der Südseite aufsteigen, dem Weg der Erstbesteiger, sagt Zsolt, „weil ich ein Romantiker bin“. Er werde dann wohl „zur Enttäuschung vieler“ bei seinem Aufstieg Flaschensauerstoff nutzen, so Torok, „weil es nicht mein Ziel ist, die Grenzen meines Körpers auszutesten, ob er in der Lage ist, auf fast 9000 Metern zu überleben. Mein Ziel wäre es, am Everest einen symbolträchtigen Ort zu erreichen, einen Platz der Meditation. Ich will wissen , wie es sich dort oben anfühlt, welche Gedanken einem durch den Kopf gehen.“