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Abenteuer Sport

mit Stefan Nestler

Gletscherleichen, Leichengletscher

In der Spalte

Unterwegs auf einem Gletscher beschleicht mich meist ein komisches Gefühl: Die Spaltenangst. Wenn das eisige Ungeheuer nun sein Maul aufreißt und mich verschlingt, könnte ich verloren sein. Seitdem ich im vergangenen Jahr einen Spaltenbergungskurs absolviert habe, weiß ich zumindest theoretisch, wie ich mich aus einer misslichen Gletscherlage befreien kann. Doch ein Restrisiko bleibt natürlich immer. „Wenn du reinfällst, tauchst du ein paar Jahre später als Leiche wieder am anderen Ende auf.“ So munterte mich 2004 mein pakistanischer Bergführer Akbar Syed auf, während wir ohne Seil (!) über den schneebedeckten Vigne-Gletscher im Karakorum liefen. Daran erinnerte ich mich, als ich heute die Berichte über den Leichenfund am Aletschgletscher in der Schweiz las.

Vor 86 Jahren verschwunden

Aletschgletscher mit Jungfrau, Mönch, Eiger (v.l.)

Ein Urlauberpaar aus Großbritannien entdeckte am Rand des mit einer Länge von gut 22 Kilometern und einer Fläche von etwa 81 Quadratkilometern größten Alpengletschers die sterblichen Überreste von drei Menschen. Außerdem fanden sie Kleiderreste, ein Fernglas, eine Taschenuhr, eine Tabakpfeife, Schneeschuhe, Bergstöcke und einen Geldbeutel mit neun Franken darin. Die neueste Münze hatte die Prägung 1921. Vermutet wird, dass es sich bei den Toten um Bergsteiger aus dem Dorf Kippel im Lötschental handelt, die seit dem 4. März 1926 vermisst wurden. Damals waren die drei Brüder Johann (31 Jahre), Cletus (29) und Fidelis Ebener (23) mit ihrem Freund Max Rieder (22) zu einer Bergtour aufgebrochen. Sie kehrten nie zurück und nahmen ihr Geheimnis mit ins eisige Grab. Eine Gen-Analyse der Skelette soll Gewissheit bringen, ob es sich bei den jetzt entdeckten Leichen wirklich um drei der vier Vermissten aus dem Lötschental handelt. Das Rätsel, wo und warum sie ums Leben kamen, wird jedoch wohl kaum zu lösen sein.

Fieberthermometer der Erde 

Der Aletschgletscher bewegt sich mit einer Geschwindigkeit zwischen 74 und 200 Metern pro Jahr. Der Klimawandel ist nicht spurlos an ihm vorbeigegangen. Gletscher sind schließlich die Fieberthermometer der Erde. Seit 1856 hat sich der „Aletsch“ um vier Kilometer zurückgezogen. Bis 2050 wird nach Berechnungen von Wissenschaftlern ein weiterer Gletscher-Kilometer verloren gehen. Wer weiß, wie viele Leichen vermisster Bergsteiger das Eis bis dahin noch frei gibt.

Auf dem Rückzug 

Zugspitzplatt mit südlichem (l.) und nördlichem Schneeferner (2006)

In Deutschland ist in dieser Hinsicht wenig Überraschendes zu erwarten – weil es kaum noch Gletscher gibt. Nur weniger als einen Quadratkilometer bedecken die fünf bayerischen Eisflächen. Und es kommt noch dünner. Die beiden Berchtesgadener Gletscher, das Blaueis und der Watzmanngletscher, „könnten selbst bei gleich bleibenden klimatischen Bedingungen bis 2020 nahezu verschwunden sein“, heißt es im jetzt von der bayerischen Landesregierung veröffentlichten ersten Gletscherbericht. Auch die Eisflächen an der Zugspitze sind todgeweiht: Dem südlichen Schneeferner werden noch 10 bis 15 Jahre gegeben. Der nördliche Schneeferner und der Höllentalferner könnten aufgrund ihrer Lage ein wenig länger überleben, auf Dauer aber nicht. Schade um sie. Trotz Spaltenangst.

P.S. In drei Tagen endet die Abstimmung zum „Online-Star 2012“. Also wer noch nicht hat und will, sollte bald für meinen Blog stimmen (Kategorie ‚Private blogs‘). Vielen Dank!

Datum

3. Juli 2012 | 22:00

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