Stopp, es reicht!
„Schlimm, furchtbar, erschreckend, ein trauriger Anblick.“ Gerlinde Kaltenbrunner ist noch immer schockiert über das, was sie im vergangenen Frühjahr am Mount Everest gesehen hat: Hunderte von Bergsteigern, die in einer langen Reihe über die Lhotse-Flanke am Fixseil zum Everest-Südsattel aufstiegen. „Da sind so viele Leute unterwegs gewesen, die dort nichts verloren gehabt hätten. Die meisten mit Flaschensauerstoff, mit Sherpas, die ihre Lasten getragen haben. Einige hatten mit Sicherheit vorher noch nie Steigeisen angelegt.“ Dass am nächsten Tag auf der Südseite des höchsten Bergs der Erde im Gipfelbereich vier Menschen ums Leben kamen, hat Gerlinde nicht überrascht.
Taube Ohren
Eine Steigerung des Wahnsinns sei kaum noch möglich. „In Lager zwei haben wir eine Kanadierin gesehen, die sich mit den Steigeisen nicht ordentlich bewegen konnte. Wir haben noch zueinander gesagt: Wenn die weiter aufsteigt, kommt sie sicher nicht mehr herunter.“ Gerlinde und ihr Seilpartner David Göttler sollten Recht behalten. Die 33 Jahre alte Kanadierin Shriya Shah-Klorfine starb in der „Todeszone“, höhenkrank und völlig erschöpft. „Für meine Begriffe fehlt da wirklich der Respekt vor dem eigenen Leben, aber auch vor dem Berg und vor der Natur“, findet Gerlinde. Nach der Rückkehr nach Kathmandu hat sie nepalesischen Regierungsvertretern vorgeschlagen, künftig nur noch Bergsteiger für den Everest zuzulassen, die vorher schon einmal eigenständig einen anderen Achttausender bestiegen haben: „Da stößt man auf taube Ohren. Die sagen schon, man muss etwas machen. Aber sie sind nur an den Einnahmen interessiert und werden ganz bestimmt nicht die Zahl der Genehmigungen reduzieren.“
Gerlinde: Respekt vor dem Leben und dem Berg fehlt
„Everest wehrt sich“
Die Profibergsteiger könnten allenfalls an die Vernunft der Everest-Anwärter appellieren, sagt die 41 Jahre alte Österreicherin, die als erste Frau alle Achttausender ohne Flaschensauerstoff bestieg: „Dass sich die Leute endlich besinnen und sich Ziele aussuchen, die sie aus eigener Kraft schaffen können und nicht mit allen Mitteln.“ Vielleicht regle der Mount Everest das Problem aber auch selbst. Im Khumbu-Eisbruch habe es so viel Eisschlag, in der Lhotse-Flanke so viel Steinschlag gegeben wie niemals vor. „Das war für mich wirklich ein Zeichen, dass der Berg jetzt sagt: Stopp, es reicht!“ Gerlinde war in diesem Frühjahr in unmittelbarer Nachbarschaft des Everest mit David Göttler die erst sechste Besteigung des 7861 Meter hohen Nuptse gelungen. „Das war eine superschöne Expedition. Ein Berg knapp unter 8000 Meter, den deswegen kaum noch jemand kennt. Wir haben den ganzen Berg und die Route für uns gehabt, und das habe ich wirklich sehr genossen.“
Der Everest wehrt sich, glaubt Gerlinde
Klappe Nordwand, die dritte?
Auch künftig wollen sich Gerlinde und ihr Ehemann Ralf Dujmovits eher anspruchsvollen Sechs- und Siebentausendern zuwenden. Doch das bedeutet nicht unbedingt, dass die Achttausender für alle Zeiten abgehakt sind. „Ich muss zugeben, dass die Kraft, die von diesen ganz hohen Bergen ausgeht, wirklich enorm ist“, räumt Gerlinde ein. Selbst der Mount Everest beschäftigt sie noch. Ein neuerlicher Aufstieg über eine der Normalrouten komme für sie wegen des Massenansturms nicht mehr in Frage, sagt Gerlinde. Doch der Plan, die Nordwand über die so genannte „Supercouloir“-Route zu durchsteigen, habe trotz zweier gescheiterter Anläufe noch nicht seinen Reiz verloren. „Die Everest-Nordwand ist noch immer genauso schön wie 2010 und 2005. Eine faszinierende Wand und eine beeindruckende Route, wo kein Mensch unterwegs ist. Diesen Traum habe ich immer noch im Kopf.“ Spruchreif sei das aber noch nicht.