Zwei wie Jean und John
Zahlen können verwirren. Besonders wenn es um Schwierigkeitsgrade von Kletterrouten geht. Eine 9 a (französische Skala) entspricht in etwa einer 5.14 d (US-Skala) oder einer glatten 11 (Skala des Weltverbands der Alpinisten UIAA). Wie auch immer: Für die allermeisten ist eine solche Route nicht kletterbar. Josune Bereziartu war 2002 die erste Frau, die eine 9 a meisterte: in einer senkrechten, ziemlich glatten, fast grifflosen Felswand in Saint Loup in der Schweiz. „Das war wirklich eine sehr extreme Kletterei, in allen Bereichen am Limit“, erzählt mir die Baskin beim IMS in Brixen. Technik, Kraft und Psyche, alles habe optimal zusammenpassen müssen. „Wenn du zu viel Kraft investiert hast, bist du gestürzt. Wie bei einem Ferrari, den du in der Kurve zu schnell fährst.“ Erst 2011 gelang es der US-Amerikanerin Sasha DiGiulian als zweiter Frau, eine vergleichbar schwere Route zu klettern.
Josune Bereziartu: Klettern am Limit
Emotionales Klettern
Dem Sportklettern kann Josune heute nicht mehr ganz so viel abgewinnen wie vor zehn Jahren. Heute bevorzugt die 40-Jährige alpine Klettertouren, gemeinsam mit ihrem Ehemann Rikar Otegui. „Sportklettern ist eher egoistisch“, findet Josune. „Erfolg oder Scheitern betrifft nur dich. Du hast zwar einen Partner, der dich sichert und vielleicht anfeuert, aber wenn es darauf ankommt, bist du allein.“ In einer großen Wand seien beide im Team gleichermaßen gefordert. „Das ist viel lebendiger. Emotionales Klettern.“
Ganz eng beieinander
Nebenwirkungen sind dabei nicht ausgeschlossen. Schließlich betreiben die beiden eine Risikosportart, und das auf einem gefährlich hohen Niveau. „Das sind zwei Seiten einer Medaille“, findet Josune. Einerseits verstünden sie sich beim Klettern ohne Worte. Ein Blick reiche, um zu wissen, was der andere denke. „Das Vertrauen ist wirklich sehr groß. Aber die Krux ist, dass der wichtigste Mensch in meinem Leben auch abstürzen und ich ihn möglicherweise sogar verlieren könnte.“ Auch Ricar verweist auf das fast blinde Verständnis mit seiner Frau beim Klettern. Konkurrenz am Fels gebe es zwischen ihnen nicht. „Unsere Charaktere ergänzen sich“, sagt Ricar. „Sie ist eher hektisch, voller Leidenschaft. Ich dagegen bin scheuer und ruhig. Wir sind wie ‚Jean und John’, ganz eng beieinander.“
Josune und Ricar über das Klettern als Paar
Kurze Wege
Das Extreme höre aber nach dem Abseilen auf, versichert der Baske. Dann führten die beiden ein ganz normales Leben als Paar. „Wir sitzen auch mal vor dem Fernseher und schauen uns alte Filme an.“ Nachwuchs sei für sie derzeit kein Thema, sagt Josune und fügt mit einem Lächeln hinzu: „Wir haben noch nicht den Ruf der Natur vernommen: Hey, ihr braucht Kinder!“ Josune und Ricar leben in San Sebastian, mit direktem Blick auf den Atlantik. Die Meeresfelsen zum Klettern liegen quasi vor der Haustür und auch zu den Felswänden in den Pyrenäen sind die Wege kurz. Beide sind noch nicht im Himalaya oder Karakorum geklettert. „Aber es ist unser Traum, diese hohen Berge zu besuchen“, sagt Ricar. „Und irgendwann werden wir ihn auch verwirklichen.“