Was das Auge über das Gehirn verrät
Gabriel Willmann hat schon Everest-Geschichte geschrieben. Mit einem Rekord der besonderen Art: Vor fünf Jahren trug der Mediziner im Rucksack acht Mäuse bis auf eine Höhe von 8400 Metern. Weil die Käfigheizung nicht richtig funktionierte, musste Willmann gut 400 Meter unter dem Gipfel umkehren, der Mäuse willen. Für sein Experiment war es wichtig, dass die Tiere lebten. Im Auftrag der Welt-Antidoping-Agentur WADA untersuchte der bergsteigende Wissenschaftler 2008, wie sich der extreme Sauerstoffmangel auf die Steuerung von Genprozessen auswirkt. Die WADA erhoffte sich von den Ergebnissen, Gen-Dopern auf die Schliche zu kommen. Damals arbeitete Willmann in einer Forschungsgruppe der Universität Pennsylvania. Heute ist der 35-Jährige als Augenarzt an der Universitätsklinik Tübingen beschäftigt – und ist der Höhenmedizin treu geblieben, nur dass er jetzt sein wissenschaftliches Auge vor allem auf das menschliche Auge wirft. Willmann hatte die Idee zu einer neuen Studie, deren Ergebnisse auch international Wellen schlagen.
Augenklinik auf dem Gipfel
Willmann und Co. ließen 14 Testpersonen innerhalb von 24 Stunden zur Capanna Regina Margherita aufsteigen. Die Hütte steht auf dem Gipfel der Signalkuppe im Monte-Rosa-Gebiet, 4559 Meter hoch. „Wir konnten da oben praktisch eine komplette Augenklinik mit modernsten Untersuchungsgeräten aufbauen“, erzählt Willmann. Per Hubschrauber brachten die Wissenschaflter 1,2 Tonnen Material auf die Hütte. „Ideale Bedingungen für eine Feldstudie.“ Deren Ergebnisse legen einen überraschenden Schluss nahe: Die akute Bergkrankheit (Acute Mountain Sickness – AMS) und das lebensbedrohliche Höhenhirnödem (High Altitude Cerebral Edema – HACE) haben möglicherweise nicht denselben Ursprung. Bisher ging man davon aus, dass AMS eine milde Form oder Vorstufe des gefährlichen Höhenhirnödems ist.
Undichte Netzhaut, aber sonst gesund
Die Tübinger Augenärzte stellten fest, dass bei jeder zweiten Testperson nach dem schnellen Aufstieg zur Margherita-Hütte Netzhaut-Gefäße in den Randbereichen Flüssigkeit verloren. Zudem wurde die Hälfte aller Probanden akut höhenkrank. Je 50 Prozent also – aber nicht dieselben. Vier der sieben Testpersonen mit undichten Netzhautgefäßen fühlten sich pudelwohl und litten nicht an AMS. Es gebe also, so Willmann, offenbar nicht zwangsläufig einen Zusammenhang. „Wir haben erstmals gezeigt, dass die Leckagen unabhängig von der AMS auftreten können.“ Bleibt für den Laien die Frage, was das mit einem Hirnödem zu tun hat? „Das Auge ist entwicklungsgeschichtlich ein Teil des Gehirns. Der Gefäßaufbau ähnelt sich sehr“, erklärt Willmann. Was also in großer Höhe mit der Netzhaut geschehe, könnte analog auch im Gehirn passieren. „Ins Gehirn kann ich aber nicht so einfach hineinsehen wie ins Auge.“
Leckagen schlossen sich wieder
Die von den Tübingern erstmals nachgewiesenen undichten Netzhautgefäße sind übrigens nicht die Ursache dafür, dass mancher Trekker oder Expeditionsbergsteiger in großer Höhe über massive Sehstörungen klagt. Die auf der Margherita-Hütte beobachteten Leckagen hätten an den Rändern der Netzhaut gelegen, sagt Willmann. Der plötzliche Verlust der Sehkraft in großer Höhe habe andere Ursachen, etwa eine Blutung im Zentrum der Netzhaut. „Was mit den Leckagen in größerer Höhe passiert, auf 6000 oder 7000 Metern, können wir jedoch nicht sagen.“ Bei den Testpersonen auf der Margherita-Hütte schlossen sich die undichten Stellen nach dem Abstieg wieder.
Viele offene Fragen
Das ist die gute Nachricht. Die weniger gute lautet: Selbst wenn du als Höhenbergsteiger nicht akut höhenkrank wirst, kann dich offenbar ein Höhenhirnödem erwischen. Ich möchte von dem Tübinger Wissenschaftler wissen, ob nun jemand, bei dem Leckagen an der Netzhaut nachgewiesen wurden, damit rechnen muss, dass auch seine Hirngefäße schneller undicht werden. „Das ist zwar eine mögliche, sehr interessante Hypothese, mehr jedoch nicht“, antwortet Gabriel Willmann. „Es gibt viele spannende Fragestellungen, die noch geklärt werden müssen!“ Da müssen Willmann und seine Kollegen von der Universitätsklinik Tübingen wohl wieder in den Himalaya reisen. Es gibt sicher Schlimmeres für bergsteigende Wissenschaftler.