Ein Berg, zwei Routen und ein wenig Ärger
Das kommt nicht allzu häufig vor. Innerhalb weniger Tage eröffneten Topkletterer aus Slowenien und Großbritannien zwei anspruchsvolle neue Routen an einem formschönen Sechstausender im indischen Himalaya. Der 6515 Meter hohe Hagshu liegt im Distrikt Kishtwar in der Krisenregion Kaschmir. Die Slowenen Marko Prezelj, Luka Lindic und Ales Cesen erreichten am 30. September den Gipfel, nachdem sie als Erste die Nordwand durchstiegen hatten. Die Briten Mick Fowler und Paul Ramsden eröffneten eine neue Route durch die vorher ebenfalls noch nicht gekletterte Nordostwand und standen am 6. Oktober auf dem höchsten Punkt.
Schwarzer Peter beim IMF
Eigentlich hatten sich Fowler und Ramsden ebenfalls die Nordwand vorgenommen und dafür auch eine Genehmigung des indischen Bergsteiger-Verbands IMF. Doch der hatte auch den Slowenen grünes Licht gegeben, ohne dass die beiden Expeditionen von den Plänen des jeweils anderen wussten. Als Fowler und Ramsden am Hagshu eintrafen, waren Prezelj, Lindic und Cesen bereits akklimatisiert und auf der Nordwand-Route zugange. Die beiden Briten wichen auf die Nordostwand aus. Nach ihrer Rückkehr vom Gipfel besuchten sie die slowenischen Bergsteiger in deren vorgeschobenem Basislager. „Sie waren sichtlich enttäuscht und verärgert, dass wir vor ihnen „ihre“ Route erklommen hatten“, schreibt Prezelj in seinem Expeditionsbericht. Man sei sich aber einig gewesen, dass die Schuld beim IMF liege, wo offenbar eine Hand nicht wisse, was die andere tue. Die Wut der Briten scheint inzwischen weitgehend verraucht zu sein. „Unsere Durchsteigung der Nordostwand erwies sich als erfreulich denkwürdig, und sorgte in Verbindung mit der Überschreitung des Bergs für einen netten Sechs-Tages-Ausflug“, ließ Fowler wissen.
Vier Besteigungen auf vier Routen
Der Hagshu wurde 1989 von den Polen Pawel Jozefowicz and Dariusz Zaluski erstmals bestiegen – allerdings ohne Genehmigung. Die erste „legale“ Besteigung gelang eine Woche später einem britischen Team um Robin Beadle. Später wurde die Bergregion wegen des Konflikts mit Pakistan um Kaschmir für ausländische Bergsteiger gesperrt. 2010 gab die indische Regierung mehr als hundert Gipfel im Bundesland Jammu und Kaschmir wieder zur Besteigung frei, darunter auch den Hagshu. „Wenige Berge haben eine so kuriose Besteigungsgeschichte”, findet Mick Fowler. „Bis jetzt gab es nur vier Gipfelerfolge, zwei innerhalb weniger Tage 1989 und auch zwei innerhalb weniger Tage 25 Jahre später. Und alle auf verschiedenen Routen.“
Fowler und Ramsden sind seit vielen Jahren ein eingespieltes Bergteam. 2003 und 2013 wurden die beiden Briten mit dem Piolet d’Or ausgezeichnet, dem „Oscar“ der Bergsteiger. Den erhielt 1992 auch der Slowene Marko Prezelj. Mal sehen, ob die Jury bei der nächsten Piolet d’Or-Auflage eine der Erstbegehungen am Hagshu für preiswürdig hält. Oder sogar beide?