Temba Tsheri Sherpa: „Die Menschen haben immer noch Angst“
Als Temba Tsheri den Gipfel des Mount Everest erreichte, war er gerade einmal 16 Jahre und 14 Tage alt. Der nepalesische Schüler aus dem Rolwaling-Tal hatte sich einem französischen Team angeschlossen, das von der tibetischen Nordseite auf den Gipfel des Everest kletterte. Damals, im Jahr 2001, war er der jüngste Bergsteiger aller Zeiten auf dem höchsten Berg der Erde. (Neun Jahre später wurde er vom 13-jährigen US-Amerikaner Jordan Romero abgelöst.) Bereits im Frühjahr 2000 hatte Temba versucht, den Everest von der Südseite aus zu besteigen. Kurz unterhalb des Gipfels hatte er umkehren müssen, weil ihn ein Stau am Hillary-Step zu viel Zeit gekostet hatte. Er bezahlte das Abenteuer mit dem Verlust von fünf Fingern, an denen er sich Erfrierungen zugezogen hatte.
Später studierte Temba Tsheri Sherpa an der Universität der chinesischen Stadt Wuhan, anschließend machte er sich selbstständig und organisierte Expeditionen. Als am 25. April das verheerende Erdbeben Nepal traf, war er Geschäftsleiter von „Dreamers Destination“, einem Veranstalter in Kathmandu, der gerade mit einer großen Expeditionsgruppe am Everest war. Die riesige Lawine, die durch die Erdstöße am Pumori ausgelöst wurde und das Everest-Basislager traf, kostete drei von Tembas ausländischen Kunden und zwei seiner nepalesischen Mitarbeiter das Leben. Ich habe den 30 Jahre alten Sherpa nach der Lage in seinem Heimatland einen Monat nach dem Erdbeben gefragt.
Temba, wie sieht deine persönliche Bilanz der Erdbebenkatastrophe aus?
Ich blicke zum ersten Mal in meinem Leben einer solchen Katastrophe ins Auge. Ich habe es mir niemals vorstellen können. Wir haben zwei Häuser verloren, eines im Dorf Tashinam-Gauri Shankar, in dem ich geboren wurde, und eines in Jagat, wo meine Eltern ein kleines Gasthaus für Trekkingtouristen betrieben. Zusätzlich habe ich mein Geschäft verloren, meine Freunde und Kunden im Everest-Basislager. Ich habe die komplette Ausrüstung verloren, für die wir fünf Jahre lang hart gearbeitet hatten.
Was bedeutet das für deine Zukunft und für jene deines Unternehmens „Dreamers Destination”?
Ich habe ein wenig Sorgen, dass Trekkingtouristen und andere Reisende befürchten könnten, dass Nepal kein sicheres Reiseziel mehr ist. Aber ich bin sicher, dass sich alles wieder zum Guten wendet. Wir haben immer noch viele Dinge anzubieten, die Touristen genießen können. Jetzt ist unser kleines Land noch bekannter geworden, die Menschen wissen nach der Katastrophe mehr über Nepal. Deshalb bin ich mir sicher, dass noch mehr Leute hierher kommen wollen. Aber für „Dreamers Destination” arbeite ich nicht mehr. Aus persönlichen Gründen.
Du lebst in Kathmandu, aber du kommst aus dem Rolwaling-Tal und hast Kontakt zu Menschen überall im Land. Wie ist die Lage einen Monat nach dem verheerenden Erdbeben?
Die Menschen haben immer noch Angst, deshalb leben sie draußen in Zelten. Tag für Tag spüren wir die Erdstöße, weiterhin fallen Gebäude in sich zusammen, immer noch sterben Menschen. Die Straßen sind blockiert. Meine Familienmitglieder, die im Dorf leben, haben bisher keine ausreichende Hilfe erhalten. Bald geht ihnen das Essen aus. Sie sind wirklich besorgt, weil der Monsun vor der Tür steht.
Kommt die Hilfe dort an, wo sie am meisten gebraucht wird? Und wenn nicht, warum?
Ehrlich gesagt, habe ich keine Zeit gehabt, mich intensiv mit den Hilfsaktionen zu beschäftigen, weil ich zu viel mit dem Everest zu tun hatte. Ich musste mich um die Verletzten kümmern, die ganze Angelegenheit regeln, damit bin ich immer noch beschäftigt. Aber natürlich höre ich einiges über die Hilfsaktionen. Ich weiß, dass es viele INGOs (Internationale Nicht-Regierungsorganisationen) und NGOs (Nicht-Regierungsorganisationen) gibt, die helfen wollen. Aber das können sie nur dort, wo ihnen Fahrzeuge zur Verfügung stehen, um die vom Beben betroffenen Orte zu erreichen und ihre Hilfsgüter zu transportieren. Einige Leute verschaffen sich einen Vorteil: Sie horten Geld und Hilfsgüter und verteilen sie an ihre Familien.
Im vergangenen Jahr endete die Bergsteiger-Saison am Everest, nachdem bei einer Lawine im Khumbu-Eisbruch 16 Nepalesen ums Leben gekommen waren. In diesem Jahr war vorzeitig Schluss, weil eine durch das Beben ausgelöste Lawine das Basislager traf und 19 Menschen tötete. Kein Bergsteigen, das bedeutet auch kein Einkommen für viele Familien. Wie ist die Stimmung unter den Sherpas?
In der derzeitigen Lage machen sie sich mehr Sorgen um das Erdbeben, weil sie jetzt ihr Obdach verloren haben.
Zwei Katastrophen in zwei aufeinander folgenden Jahren, wie geht es mit dem Everest-Bergsteigen auf der nepalesischen Seite weiter?
Ich glaube nicht, dass es einen negativen Effekt geben wird. Die Menschen mögen das Bergsteigen immer noch und werden es auch weiterhin tun, weil jeder weiß, das Klettern gefährlich ist und möglicherweise auch Leben kosten kann. Alljährlich sterben Menschen in den Bergen, es mag sein, dass es im vergangenen und in diesem Jahr einige mehr als sonst waren. Aber Jahr für Jahr sterben Menschen in Lawinen.
Der neue nepalesische Tourismusminister (Kripa Sur Sherpa wurde am vergangenen Freitag ernannt.) ist wie du ein Sherpa. Was erwartest du von ihm?
Ich hoffe, dass er für die Sherpa-Bergsteiger kämpft. Sherpas klettern seit Generationen. Sie riskieren ihr Leben und andere streichen den Profit ein. Und dabei werden Sherpas nur als Träger wahrgenommen, was falsch ist. Sie haben ihr Leben verloren, und niemand kümmert sich um ihre Familien und Kinder. Ich erwarte von der Regierung, dass sie ihnen angemessene Unterkünfte verschafft und für die Erziehung der Kinder sorgt.