Gesehen: „Everest“
Der Film „Everest“ funktioniert, wenn du ihn konsumierst, als würdest du an einem heißen Sommertag unter die Gartendusche gehen: Einfach berieseln lassen, nicht großartig nachdenken! Dann wirst du die 3-D-Sequenzen, die wirklich in Nepal gedreht wurden, genießen: etwa die Aufnahme von oben auf die Hängebrücke, die den Dudh Kosi nahe Namche Bazar in luftiger Höhe überquert, oder auch den Blick ins Western Cwm, das „Tal des Schweigens“, oberhalb des Khumbu-Eisbruchs. Du wirst die erzählte Geschichte über das Unglück am Everest 1996, bei dem nach einem Wettersturz acht Bergsteiger im Gipfelbereich ums Leben kamen, wahrscheinlich spannend finden. Und du wirst womöglich nach zwei Stunden mit dem Gefühl aus dem Kinosessel aufstehen, gut unterhalten worden zu sein und ein filmtechnisch solides Berg-Actiondrama gesehen zu haben. Problematisch wird es allerdings, wenn du den Hinweis zu Beginn des Films ernst nimmst: „Nach einer wahren Geschichte“.
Zu viele Dramen für zwei Stunden
Über kaum ein Bergunglück ist so viel publiziert worden wie über jenes am Everest im Frühjahr 1996. Jon Krakauers Buch „In eisige Höhen“ wurde weltweit zum Bestseller. Doch auch andere Beteiligte griffen zur Feder, etwa der Russe Anatoli Boukreev, der Krakauers Version in vielen Punkten widersprach. Es gab Schuldzuweisungen hier wie dort. Die Geschichte ist komplex. Eine Melange aus Wetterverhältnissen, taktischen Fehlentscheidungen der Bergführer und fehlendem alpinistischem Können einiger Kunden der kommerziellen Veranstalter führte zu dem Unglück. Während des Sturms im Gipfelbereich spielten sich viele Dramen gleichzeitig ab, die, jedes für sich genommen, schon Stoff für einen zweistündigen Film geboten hätten: etwa die unglaubliche Überlebensgeschichte von Beck Weathers, die Rettungsversuche von Anatoli Boukreev, der immer wieder aufbrach, um die Vermissten zu suchen, oder auch Rob Halls Funkgespräch kurz vor seinem Tod mit seiner schwangeren Frau Jan Arnold in Neuseeland (Hört unten nach, was mir Jan 2003 in Kathmandu zu diesem letzten Gespräch mit Rob sagte).
Nur angedeutet
Darin liegt die Schwäche des Films: Die Ursachen des Unglücks 1996 waren so vielschichtig, es gab so viele Akteure, und es geschah so viel während des Sturms, dass es schlicht unmöglich ist, alle Details und Aspekte in einem zweistündigen Kinofilm unterzubringen. Doch genau das scheint Regisseur Baltasar Kormákur versucht zu haben. Alles wird irgendwie angerissen oder angedeutet, aber nichts wirklich vertieft. Da wird zum Beispiel ein Konflikt zwischen den Sirdars der verschiedenen Gruppen suggeriert, aber nur indem man zwei zerknirschte Sherpas zeigt, die offenkundig nicht zusammenarbeiten wollen. Warum? Mögen die sich nicht? Wo sind die anderen Sherpas? Oder diese Szene: Plötzlich fehlen an zwei Schlüsselstellen im Gipfelbereich die eigentlich vereinbarten Fixseile. Schnitt. Ein Sherpa zieht am kurzen Seil eine Klientin nach oben. Wer sind die beiden? Sollte dieser Sherpa wirklich die Fixseile am „Balkon“ und am „Hillary Step“ anbringen?
Verzerrt
Der Film bietet Topstars aus Hollywood auf: Josh Brolin, Jake Gyllenhall, Keira Knightley, Robin Wright und Emily Watson, um nur einige zu nennen. Doch sie erhalten kaum Gelegenheit, ihre Rollen richtig zu entwickeln – schlicht, weil der Film zu viel vermitteln will statt sich auf einzelne Aspekts zu konzentrieren. Und so gerät auch das eine oder andere Porträt schief. So spielt Gyllenhall den bei dem Unglück ums Leben gekommenen US-Bergführer Scott Fischer zugegebenermaßen mit viel Verve. Doch der „echte“ Fischer dürfte wohl deutlich mehr gewesen sein als der häufig alkoholisierte, mittelschwer durchgeknallte, narzistisch veranlagte Freak, als der er im Film herüberkommt. Aber so oft war Gyllenhall eben auch nicht im Bild, dass er ein wirkliches differenziertes Bild Fischers hätte vermitteln können.
Immer Wind und Lawinen
Apropos wenig differenziert: Glaubt man dem Film, windet bis stürmt es am Everest eigentlich immer, ständig gehen Lawinen ab oder stürzen Seracs in sich zusammen. Als wenn der Everest nicht auch ohne diese filmische Dramatisierung schon spektakulär genug wäre. Wenn die Bedingungen wirklich so wären wie dargestellt, hätte es wohl kaum knapp 7000 erfolgreiche Besteigungen seit 1953 gegeben.
Genug gemeckert. Vielleicht beschäftige ich mich einfach zu häufig mit Höhenbergsteigen und dem, was am höchsten Berg der Erde geschieht. Geht einfach ins Kino (Start: 17. September), um euch von „Everest“ unterhalten zu lassen! Dann werdet ihr wahrscheinlich auf eure Kosten kommen. Denkt an die Gartendusche! 😉
Jan Arnold über ihr letztes Gespräch mit Rob Hall (aufgezeichnet 2003)