Luanne Freer: „Niemand spricht offen über Doping am Everest“
„Mach‘ nie deinen Mund auf, außer du sitzt auf dem Zahnarztstuhl.“ So hat Salvatore Gravano, genannt „Sammy, der Bulle“, ein Mafioso aus New York, die „Omertà“ beschrieben: das ungeschriebene Gesetz der Unterwelt, unter allen Umständen den Mund zu halten. Auch unter dopenden Sportlern wird in der Regel eisern geschwiegen – zumindest bis zu dem Tag, an dem sie als Sünder enttarnt werden. Der Bergsport ist in dieser Hinsicht keine Insel der Glückseligen. Jeder, der selbst schon einmal auf Expedition war, dürfte erlebt haben, wie sorglos manche Bergsteiger zu Medikamenten greifen, die eigentlich für den Ernstfall gedacht sind. Oder auch zu leistungssteigernden Mitteln. Nur zugeben will es niemand. Luanne Freer ist die „Everest-Doktorin“. Seit zwölf Jahren versorgt sie in ihrer Ambulanzstation im Basislager auf der nepalesischen Seite des höchsten Bergs der Erde Bergsteiger, die ärztliche Hilfe benötigen. Ich habe die 57-Jährige nach ihren Erfahrungen in Sachen Doping am Mount Everest gefragt.
Luanne, du hast 2003 die „Everest Notaufnahme“ (Everest ER) gegründet, die höchst gelegene Notfallambulanz der Welt. Seitdem hast du viele Klettersaisons im Basislager verbracht. Wie weit verbreitet ist Doping unter den Everest-Anwärtern?
Wir sind uns nicht wirklich sicher, weil nicht offen darüber gesprochen wird. Unsere Mediziner entdecken es nur, wenn es Komplikationen gegeben hat oder wenn Patienten zu uns mit Symptomen kommen, die wahrscheinlich mit Doping zusammenhängen. Deshalb haben Dr. Luks, Dr. Hackett, Dr. Grissom [Andrew M. Luks, Peter Hackett und Colin K. Grissom sind drei international renommierte Höhenmediziner aus den USA] und ich eine vertrauliche und anonyme Umfrage unter Everest-Bergsteigern gestartet. Wir haben eine Menge Daten gesammelt und sind immer noch dabei, sie zu sieben.
Hast du festgestellt, dass Bergsteiger gedankenlos zu Medikamenten greifen, die eigentlich für Notfälle gedacht sind?
Ich sage es mal so: Ich habe einige Bergsteiger erlebt, die sehr starke Medikamente nutzen, ohne sich darüber allzu viele Gedanken zu machen oder eine Einblick zu haben, welche möglichen Schäden sie sich damit selbst zufügen können.
Wie viele Unfälle am Everest sind auf Medikamentenmissbrauch zurückzuführen?
Bei einem oder zwei Unfällen bin ich mir ziemlich sicher, dass eine ärztlich nicht genehmigte Verwendung oder eine falsche Dosierung von Medikamenten zum Tod oder zu einer Verletzung mit beigetragen haben.
Wer trägt mehr Schuld: die Bergsteiger, die zu Medikamenten greifen oder die Ärzte, die es ihnen nahelegen?
Den Bergsteigern kann ich keinen Vorwurf machen. Aber ich appelliere dringend an die Ärzte, die diese Medikamente verschreiben, sich vorher über die wissenschaftlichen Erkenntnisse über einen sicheren Gebrauch schlau zu machen und anschließend auch ihre Patienten darüber zu informieren. Es ist unerlässlich, dass jeder mit einer Pillendose genau weiß, wie und warum er die Medikamente verwenden soll – und das auf eine sichere Weise. Es ist unsere ärztliche Pflicht, dies sicherzustellen.
Stellst du einen Trend unter Höhenbergsteigern fest, zu einem sauberen Bergsport zurückzukehren?
Ich höre Meinungen aus jeder Ecke – von jenen, denen jedes Mittel recht ist, um Leistung und Sicherheit zu erhöhen, bis zu denen, die schon die Verwendung von Flaschensauerstoff für unethisch halten.
Die vergangenen beiden Saisons am Everest endeten vorzeitig – 2014 nach einer Eislawine im Khumbu-Eisbruch, 2015 nach einer Lawine, die durch das Erdbeben am 25. April ausgelöst wurde und das Basislager traf. Sehnst du dich als Everest-Ärztin nach einer ganz normalen Everest-Saison im nächsten Frühjahr?
Wir alle hoffen auf eine sichere und unkomplizierte Saison. Leider ist das selten der Fall. Deshalb sind schon zufrieden, wenn das Wetter gut ist, die Erde nicht bebt und Bergsteiger mit großer Erfahrung und in der besten Form ihres Lebens anreisen.