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Abenteuer Sport

mit Stefan Nestler

Eine Nacht in Heidiland

Mein Schlafplatz

„Heidi, Heidi, deine Welt sind die Be-erge …“ Ich zelte in Heidiland. So hat Bad Ragaz sogar seine Internetseite getauft. In dem Ort am Rhein schrieb Ende des 19. Jahrhundert Johanna Spyri ihre berühmten Heidi-Romane über das Waisenkind, das bei ihrem in den Bergen lebenden Großvater aufwächst, dem „Almöhi“. Spyris Romane mit ihrem leicht verklärten Blick auf das Leben in den Bergen wurden zu einem der großen Exportschlager der Schweiz. Theoretisch hätte Heidi auch ein Faltrad (manche sagen auch Klapprad) besitzen können. Das erste Patent wurde 1878 angemeldet, zwei Jahre, bevor der erste Heidi-Roman erschien. Mit meinem Faltrad, mit dem ich heute die erste Etappe von „School up! River down“ in Angriff genommen habe, hatte die Urversion allerdings wenig gemeinsam. Meines hat 20-Zoll-Räder, eine Acht-Gang-Kettenschaltung und wiegt rund 14 Kilogramm. Ich muss ihm auf den Sattel klopfen, heute hat es sich wirklich bewährt.

Alpenpass-tauglich

Vor dem Start

Als ich morgens – bei immer noch geschlossener Schneedecke neben der Straße und ziemlich kühlen Temperaturen, am Oberalppass auf gut 2000 Metern startete, erwischte ich mich bei dem Gedanken, dass eine steile Passabfahrt das kleine Rad überfordern könnte. Dementsprechend vorsichtig ließ ich es an. Mit der Zeit aber fühlte ich mich immer sicherer. Die Bremsen griffen, und auch bei schnellerem Tempo ließ sich das Rad gut steuern. Bis auf eine Höchstgeschwindigkeit von 45 km/h kam ich laut meinem Tacho. Auch mit einem „normalen“ Rad wäre ich wohl kaum schneller gefahren. Schließlich bin ich nicht der geborene Abfahrer. Ich will immer die Kontrolle über meinen fahrbaren Untersatz behalten, deshalb lautet meine Devise: Lieber einmal zu viel, als einmal zu wenig bremsen.

Nein, kein E-Bike!

Leicht unterkühlt erreichte ich den Ort Disentis. Immerhin war es hier grün. Die Sonne wärmte zunehmend, und nach einer Weile konnte ich die Jacke, das langärmelige Shirt und die Beinlinge wegpacken. Da noch kaum Autos unterwegs waren, blieb ich auf der Hauptstraße, so dass ich recht schnell vorankam. Die ersten 50 Kilometer – zugegeben, meist bergab – schaffte ich in etwas mehr als zwei Stunden, ein guter Schnitt. Doch die eigentlich Herausforderung sollte erst noch kommen. Hinter Ilanz warteten ein paar deftige Anstiege, um die Rheinschlucht zu umfahren. Nun schwitzte ich, mein Atem wurde kürzer, und meine Waden signalisierten mir, dass sie alles andere als begeistert waren. Doch mit Geduld und Ausdauer schaffte ich auch diese Steigungen. Auf der Höhe wurde ich jeweils mit tollen Tiefblicken in die Schlucht belohnt. Als ich an einem Aussichtspunkt drei Touristen – unüberhörbar aus dem Rheinland – traf und ihnen von meiner Radfahrt den Fluss hinunter erzählte, kam prompt die Frage: „Mit ’nem E-Bike?“

Zum Abschluss Gegenwind

Der Siegeszug der motor-getriebenen Fahrräder ist auch hier nicht zu übersehen. Ich komme mir fast schon wie ein Exot vor, weil ich mein kleines Rad noch ausschließlich mit Muskelkraft antreibe. Die brauchte ich auch auf dem letzten Drittel der Etappe. Zwar wurde es vor der Stadt Chur wieder flacher, und ich konnte immer am Rhein entlangradeln. Aber der Wind hatte aufgefrischt und wehte mir – wie auch sonst? – frontal ins Gesicht. Nach 111 Kilometern auf dem Rad hatte ich die Nase erst einmal voll. Morgen ist auch noch ein Tag. Und wann kann man schon mal in Heidiland schlafen?

P.S.: Heute habe ich einen Zeltplatz mit schnellem WLAN gefunden. Ob mir das morgen wieder gelingt? Wundert euch also nicht, wenn der nächste Bericht mit etwas Verzögerung kommen sollte.

Datum

11. September 2017 | 20:56

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