Spektakuläre Erstbegehung am Cerro Kishtwar
Auf den Bildern wirkt es fast, als seien sie in den legendären Granitwänden des El Capitan geklettert – wären da nicht der Schnee und die verfrorenen Gesichter. Die beiden Schweizer Stephan Siegrist und Julian Zanker sowie der Deutsche Thomas Huber haben Mitte Oktober erstmals die zentrale Nordwestwand des 6150 Meter hohen Cerro Kishtwar im indischen Teil der Unruheprovinz Kaschmir durchstiegen. Zwei Anläufe brauchten die drei Topkletterer, ehe sie am 14. Oktober den Gipfel erreichten. Es war überhaupt erst die vierte Besteigung des entlegenen Bergs. Insgesamt war das Trio zehn Tage in der extrem steilen, teilweise überhängenden Wand unterwegs – drei Tage beim ersten Versuch, sieben beim erfolgreichen zweiten.
Schwierig von Anfang bis Ende
„Die Wand hat meine Erwartungen mehr als erfüllt“, schwärmt Stephan Siegrist. „Eine Wand in der Höhe mit so homogenen Schwierigkeiten gibt es wohl kaum ein zweites Mal.“ Der 44 Jahre alte Schweizer hatte sich in die zentrale Nordwestwand verguckt, als ihm 2011 zusammen mit seinem Landsmann Denis Burdet und dem Österreicher David Lama die zweite Besteigung des Cerro Kishtwar über eine neue Route rechts der Wand geglückt war. 1993 hatten der Brite Mick Fowler und der US-Amerikaner Steve Susted den Sechstausender erstmals bestiegen. Im Jahr zuvor hatten sich die beiden Engländer Andy Perkins und Brendan Murphy an der Nordwestwand versucht, nach 17 Tagen aber rund 100 Meter unter dem Gipfel erschöpft aufgeben müssen.
Wand unterschätzt
Siegrist, Zanker und Huber stiegen am 1. Oktober erstmals in die Wand ein, mit dem Ziel, in fünf Tagen den höchsten Punkt zu erreichen. „Rückblickend kann man sagen, wir hatten den Berg, die Wand und unser Vorhaben unterschätzt“, berichtet Thomas Huber. Nach drei Tagen hätten sie „nicht einmal ein Drittel Wandhöhe erreicht“. Das Team, so der 50-Jährige, habe dann die Taktik überdacht: „Entweder wir reduzieren radikal unsere Essensrationen, oder wir setzen alles auf einen neuen Versuch. Wir haben uns für den Rückzug entschieden.“
Erfrierungen an den Zehen
Mit neuer Kraft und Motivation startete das Trio am 8. Oktober seinen zweiten Versuch. Das Wetter war stabil, aber alles andere gemütlich: Morgens wolkenlos, nachmittags Schneefall, Temperaturen bis zu minus 20 Grad Celsius. Die extremen Herausforderungen hinterließen Spuren bei den Kletterern: Stephan kämpfte mit einer Sehnenscheidenentzündung an der linken Hand, alle drei froren sich die Zehen an. „Julian und Thomas erwischte es dabei ziemlich stark. Das wird die beiden bestimmt noch länger beschäftigen“, sagt Siegrist.
Einzigartiger Gipfelmoment
Als sie schließlich den Gipfel erreichten, sei dies, so Stephan, ein Moment gewesen, der „emotional jedem von uns tief unter die Haut ging.“ Das bestätigt auch Thomas Huber: „An dem Tag hatten wir, wie durch ein Wunder, bestes Wetter. Wir hatten fast das Gefühl, dass wir nicht alleine wären und wurden für all das, was wir durchgemacht haben, mit einem einzigartigen Moment belohnt. 500 Meter über uns zogen die Schleierwolken im Jetstream, und wir standen hier in der Sonne, bei Windstille. Wir wussten alle, dass wir es nur schaffen konnten, weil wir uns als mutige Gemeinschaft gefühlt haben!“
„Reiss di zam!“
Julian Zanker, der am Sonntag seinen 27. Geburtstag feiert, war der mit Abstand Jüngste im Team. Es sei für ihn „eine riesengroße Chance“ gewesen, mit den Routiniers Siegrist und Huber unterwegs sein zu dürfen, sagt Julian. „Für mich waren es sechs Wochen gefüllt mit schönen Momenten, neuen Erfahrungen und dazu noch einer wunderschönen neuen Linie an einem unglaublichen eindrucksvollen Berg.“ Die drei Kletterer tauften ihre Route nach dem Titel eines populären Hindu-Lieds „Har-Har Mahadev“, was laut Thomas Huber ins Bayrische übersetzt so viele heißt wie „Reiss di zam!“ (für alle Nicht-Bayern: Reiß dich zusammen!) Der Cerro Kishtwar habe sein Leben „mit einer wilden Geschichte bereichert“, bilanziert der ältere der beiden Huberbuam. Für Stephan Siegrist ist der Berg nach zwei Besteigungen auf neuen Routen jetzt abgearbeitet. „Doch Kaschmir allgemein ist für mich noch nicht abgeschlossen“, schiebt der Schweizer hinterher. Die entlegene Region bietet eben noch viele unberührte Gipfel und Wände. Wenn da nur nicht dieser endlos schwelende Konflikt zwischen Indien und Pakistan wäre.