More DW Blogs DW.COM

Abenteuer Sport

mit Stefan Nestler

Vor 35 Jahren: Reinhard Karl auf dem Everest

Reinhard Karl (1946-1982)

„Die letzten Schritte bewältigen Oswald und ich Arm in Arm. Wir sind oben. Wir fallen uns um den Hals. Es ist zwölf Uhr mittags. Wir sind am Ziel unserer Wünsche, kurz unter dem Himmel.“ Das schreibt Reinhard Karl später in seinem Buch „Erlebnis Berg. Zeit zum Atmen“ über jenen Augenblick am 11. Mai 1978, als er zusammen mit dem Österreicher Oswald Oelz den 8850 Meter hohen Gipfel des Mount Everest erreicht. Die beiden gehören zu einer von Wolfgang Nairz geleiteten österreichischen Expedition, drei Tage vorher ist Reinhold Messner und Peter Habeler ihr historischer erster Aufstieg ohne Flaschensauerstoff gelungen. Karl und Oelz benutzen Atemmasken. Reinhard ist der erste Deutsche, der auf dem Dach der Welt steht.

Oelz und Karl über die Momente auf dem Everest-Gipfel

Ein 68er als Bergsteiger

Das Bergsteigen ist Reinhard Karl nicht in die Wiege gelegt. 1946 wird er in Heidelberg geboren, in der Pfalz, fernab der Berge. Mit 14 Jahren beginnt Reinhard eine Lehre als Automechaniker, der „dreckigste und mieseste aller Traumjobs“, wie er später schreibt. Mit 17 macht er seine erste Klettertour. Das Bergsteigen am Wochenende wird zur Flucht vor dem ungeliebten Job. Als ihm der Inhaber der Autowerkstatt kündigt, beginnt Reinhard in Frankfurt zu studieren und gerät mitten in die 1968er-Studentenbewegung. Als Bergsteiger werden seine Touren extremer. Reinhard durchsteigt die Eiger-Nordwand, klettert an den Granitwänden des Yosemite-Nationalparks. 1977 eröffnet er mit Helmut Kiene am Fleischbank-Südostpfeiler im Wilden Kaiser die „Pumprisse“, eine bahnbrechende Kletterroute, die erste im siebten Schwierigkeitsgrad.

Traum erfüllt

Everest-Südseite

Reinhard hat sich inzwischen auch einen Namen als Bergfotograf gemacht. Für eine große deutsche Zeitschrift soll er im Frühjahr 1978 Fotos von der Everest-Expedition machen. Deshalb wird der damals 31-Jährige eingeladen. Karls bis dahin höchster Gipfel ist der 4810 Meter hohe Mont Blanc gewesen. Jetzt bietet sich ihm erstmals die Möglichkeit, sich an einem Achttausender zu versuchen, und dann gleich am höchsten aller Berge. „Für mich war die Chance am Anfang eins zu 1000, da hochzukommen“, schreibt Reinhard. „Ich war ja kein Expeditionsmitglied, ich war ja ein durch Zufall hergelaufener Preuße, der Fotos machen sollte.“ Doch Karl hat einen „Standard-Tagtraum“, wie er es nennt: „Den Everest ganz oben zu betreten. Dutzende Male habe ich so schon den Gipfel bestiegen. Allein, mit anderen, erschöpft, glücklich, im Sturm und bei Sonnenschein. Die Fotos, die ich von anderen Gipfelbesteigungen sah, haben sich zu meinem Besteigungs-Traumfilm vermehrt.“

Oswald Oelz über Reinhard Karl 1978 am Everest

Bei leichtem Schneetreiben brechen Reinhard und Oswald vom Südsattel aus auf. Das Thermometer zeigt 35 Grad minus, der Wind bläst mit 50 Stundenkilometern. Nach sechs Stunden erreichen die beiden den Gipfel. Zurück in Deutschland erhält Karl das „Silberne Lorbeerblatt“, die höchste Auszeichnung der Bundesrepublik für Sportler. Beim anschließenden Bankett sagt Reinhard zum damaligen Innenminister Gerhart Baum: „Wissen Sie, wenn ich nicht Bergsteiger geworden wäre, wäre ich vielleicht Terrorist geworden.“

Tod in der Eislawine

Cho Oyu

1979 besteigt Karl mit dem Gasherbrum II seinen zweiten Achttausender. Dann reißt seine Erfolgsserie. Reinhard scheitert am Cerro Torre in Patagonien, muss am Nanga Parbat aufgeben und auch der K 2 hält ihn auf Distanz. Beim Versuch, den Cho Oyu über die Südwand zu besteigen, stirbt Karl am 19. Mai 1982 im Zelt auf 6700 Metern Höhe in einer Eislawine. Ein Eisbrocken hat den 35-Jährigen im Gesicht getroffen.

Reinhard Karls letztes Interview am Cho Oyu 1982

Wirklich oben bist du niemals

Bis heute genießen Reinhard Karls Schriften und Bilder Kultstatus – auch seine Worte über die Momente auf dem Dach der Welt: „Wir machen Gipfelfotos für das Familienalbum: Ich, der Gipfelsieger. Ich, der Übermensch. Ich, das atemlose Wesen. Ich der Reinhard auf einem Schneehaufen. Langsam kommen mir die Kälte, der Wind und meine Erschöpfung zu Bewusstsein. Langsam kommt nach der Freude die Traurigkeit, ein Gefühl der Leere: Eine Utopie ist Wirklichkeit geworden. Ich ahne, dass auch der Everest nur ein Vorgipfel ist, den wirklichen Gipfel werde ich nie erreichen.“

P.S. Ich empfehle euch die Reinhard-Karl-Biographie von Tom Dauer: „Ein Leben ohne Wenn und Aber“. Die dort beiliegende CD (mit einem Radio-Feature und O-Tönen von Karl) habe ich vor elf Jahren verzapft.

Datum

11. Mai 2013 | 14:44

Teilen