Billi Bierling zum Everest-Schwindel: “Es ist traurig”
Lügen haben kurze Beine. Nach Informationen der in Kathmandu erscheinenden Zeitung „The Himalayan Times“ hat das nepalesische Tourismusministerium Sanktionen gegen das indische Ehepaar auf den Weg gebracht, das – wie berichtet – offenkundig gefälschte Gipfelfotos vorgelegt hatte, um seine Everest-Urkunden zu erhalten. Aller Voraussicht nach werden die Zertifikate annulliert, die beiden Schummel-Bergsteiger dürfen zudem möglicherweise zehn Jahre lang keine Berge in Nepal mehr besteigen. „Die Tourismus-Behörde wird außerdem die nötigen Schritte gegen den Verbindungsoffizier, die Climbing Sherpas und den Expeditionsveranstalter ergreifen“, sagte Sudarshan Prasad Dhakal, Direktor der Behörde, der “Himalayan Times”. Die beiden Sherpas, die Dinesh und Tarakeshwari Rathod am Everest unterstützt hätten, seien weiterhin nicht erreichbar, teilte der Veranstalter Makalu Adventure mit und beschuldigte die Sherpas, für den Schlamassel verantwortlich zu sein.
Die Mitarbeiter der Himalayan Database, der Bergsteiger-Chronik der legendären Elizabeth Hawley, prüfen ebenfalls den Fall. Ich habe Kontakt zu Billi Bierling aufgenommen. Die 49-jährige deutsche Journalistin und Bergsteigerin ist die designierte Nachfolgerin von Miss Hawley, die inzwischen 92 Jahre alt ist.
Billi, auch ihr seid bei eurem Interview mit den beiden indischen Bergsteigern allem Anschein nach getäuscht worden. Wie steht es um die gern beschworene Bergsteiger-Ehre?
Ich muss leider sagen: Ich glaube, es hat sich etwas in der Welt des Himalaya-Bergsteigens geändert. Früher waren Besteigungen etwas Besonderes und eine große Leistung. Doch mit der Kommerzialisierung, der Jagd nach Sponsoren und dem Drang, etwas Besonderes vorweisen zu wollen (einfach den Everest zu besteigen, scheint nicht mehr zu reichen), ist nach meiner Einschätzung die Zahl der Leute gestiegen, die nicht mehr hundertprozentig ehrlich sind.
Miss Hawley, Jeevan Shrestha (der das indische Ehepaar befragt hat) und ich selbst arbeiten auf Vertrauensbasis, und auch wenn ich immer noch glaube, dass die große Mehrheit der Bergsteiger ehrlich ist, hat es einige zweifelhafte Fälle gegeben. In solchen Fällen fragen wir weiter nach. Und wenn der Bergsteiger oder die Bergsteigerin weiterhin darauf besteht, den Gipfel erreicht zu haben, rechnen wir ihm die Besteigung an, allerdings mit dem Hinweis, dass sie nicht bestätigt oder sogar strittig ist.
In „normalen“ Everest-Saisons besteigen mehrere hundert Menschen den höchsten Berg der Erde. Ist es überhaupt noch möglich, jeden vermeldeten Gipfelerfolg intensiv zu überprüfen? Was könnte helfen?
Da Miss Hawley nicht länger arbeitet und im vergangenen Frühjahr nur Jeevan und ich die Teams getroffen haben, ist es beinahe unmöglich geworden, ausreichend Zeit mit jeder einzelnen Expedition zu verbringen, um alles zu kontrollieren, was sie angeben. Wie ich schon zuvor sagte, vertraue ich immer noch darauf, dass die meisten Menschen ehrlich sind. Aber für die anderen müssen wir uns ein neues System ausdenken. In der heutigen Zeit scheint doch jeder einen GPS-Tracker zu haben, den wir nachverfolgen können. Oder wir können uns die Gipfelfotos von allen ansehen, aber wie sich jetzt gezeigt hat, funktioniert das nicht mehr unbedingt.
Vielleicht sollten wir, wie bei Wettläufen, jeden Bergsteiger mit einem Chip ausrüsten, der piept, wenn er am Gipfel angekommen ist. Aber wo würde das hinführen? Ich bevorzuge es immer noch, den Leuten zu vertrauen.
Es wird in diesen Tagen viel über eine mögliche Dunkelziffer erschlichener Everest-Urkunden diskutiert. Muss man damit leben, dass es überall im Sport solche Übeltäter gibt, also auch im Höhenbergsteigen?
Ja, es ist traurig. Miss Hawley hat immer darauf hingewiesen, dass wir weder Richter noch Detektive sind – wir sind einfach Reporter, die Daten für die Himalayan Database sammeln. Wenn wir nun jede Besteigung anzweifeln und untersuchen müssen, ob die Bergsteiger wirklich die Wahrheit sagen, finde ich wirklich, dass der Geist, mit dem Miss Hawley ihre Chronik begonnen hat, überholt ist. Auch wenn sie immer hart nachgefragt hat, hat sie in der Regel nicht geurteilt. Erst wenn es ganz klare Beweise gegen die Aussagen der Bergsteiger (wie im Fall der Inder) gab, hat sie es abgelehnt, die Besteigung anzuerkennen.
Wir werden es also in Zukunft schwer haben, und im Augenblick weiß ich wirklich nicht, wie diese Zukunft aussehen wird. Aber bevor nicht der endgültige Beweis vorliegt, wie könnten wir darüber entscheiden, ob jemand oben war oder nicht, ohne ihn oder sie selbst am Berg begleitet zu haben? Und ich denke, es wird noch zwei weitere Generationen dauern, bis die Himalayan Database auf allen Gipfeln von Expeditionsbergen Leute stationiert hat, die die Besteiger abhaken. Ich hoffe also, dass ich mit meinem Bauchgefühl richtig liege und dass trotz dieser unfassbaren Geschichte des indischen Ehepaares die meisten Bergsteiger ehrlich bleiben und die Wahrheit sagen!