„Seil vermittelt falsche Sicherheit“
Ein Vater muss hilflos zusehen, wie seine beiden Kinder in den Tod stürzen. Dieses Bild verfolgt mich seit den Meldungen über das Unglück am Lagginhorn im Wallis. Ähnlich dürfte es wohl allen gehen, die selbst Kinder haben. Der Absturz von gleich fünf Bergsteigern aus Deutschland hat bei mir Fragen aufgeworfen. Ich habe zum Telefonhörer gegriffen und mit Robert Mayer gesprochen. Der Bergführer ist Sicherheitsexperte und Ausbildungsleiter beim Deutschen Alpenverein (DAV).
Fünf deutsche Bergsteiger sind am Lagginhorn in den Tod gestürzt. Halten Sie es auch als wahrscheinlichste Variante, dass es sich um einen so genannten „Mitreißunfall“ handelt, dass also einer die anderen am Seil mit in den Tod gerissen hat?
Robert Mayer: Definitiv. Die Alternative wäre ein Schneebrett-Abgang, aber die Wetterverhältnisse waren eigentlich nicht danach. Es war in den Tagen davor sehr warm und hat gegraupelt, dabei bilden sich keine Schneebretter. Folglich handelt es sich ziemlich sicher um einen Mitreißunfall, ob mit oder ohne Seil, ist unseres Wissens nach bisher noch nicht schlüssig geklärt.
Angenommen, sie waren angeseilt, wie groß ist die Chance, das Abrutschen zu verhindern, wenn ein Mitglied der Seilschaft abstürzt?
Das hängt von mehreren Faktoren ab: von der Steilheit des Geländes, von der Beschaffenheit der Schneeoberfläche, vom Abstand zwischen den Angeseilten und nicht zuletzt von der Reaktionsfähigkeit des Bergsteigers hinter dem Abstürzenden. Eine pauschale Aussage ist hier nicht möglich.
Wäre es denn sicherer gewesen, in einer Zweier- oder Dreier- als in einer Fünfer-Seilschaft zu gehen?
Es wäre noch sicherer, dort ganz ohne Seil zu gehen. Das Seil vermittelt in derartigem Gelände von 30 bis 40 Grad Steilheit eine falsche Sicherheit. In solchem Gelände sind eigentlich nur Bergführer ausgebildet und geübt, einen Sturz am so genannten kurzen Seil zu halten. Normal-Bergsteiger können das in der Regel nicht.
Robert Mayer (DAV): Seil vermittelt falsche Sicherheit
Hätte der Unfall also vermieden werden können, wenn sich die Gruppe einem einheimischen Bergführer anvertraut hätte?
Grundsätzlich natürlich ja. Ein Bergführer hat ein viel besseres Gespür für Risiken und Gefahren und handelt dann entsprechend. Meine Vermutung ist, dass ein Mitglied der Gruppe ausgerutscht ist – aufgrund verschiedener Faktoren. Zum einen die Müdigkeit. Sie waren am Gipfel und früh aufgestanden. Es kommt die Höhe dazu, sie waren erschöpft. Zum anderen der weiche Schnee. Sehr oft werden die „Stollen“ unter den Steigeisen unterschätzt. Wenn der Schnee weich ist, haftet er zwischen den Steigeisen-Zacken und bildet richtige Stollen. Da passiert es ganz schnell, dass vor allem ein unerfahrener Bergsteiger wegrutscht und die anderen mitnimmt.
Die Bergretter beklagen Selbstüberschätzung und mangelnde Fitness als Hauptgrund für die zunehmende Anzahl an Bergunfällen in den Alpen. Haben Sie diese Beobachtung auch gemacht?
Das Gebirge birgt immer ein gewisses Risiko, das man nicht hundertprozentig ausschalten kann. Aber das macht ja in gewisser Weise auch einen Teil des Reizes am Bergsteigen aus. Die Konsequenz daraus ist, dass immer wieder einmal Unfälle passieren, wobei dieses Unglück natürlich besonders tragisch ist.
Robert Mayer (DAV): Risiko gehört zum Bergsteigen
Das Lagginhorn gilt als so genannter „leichter“ Viertausender. Was sagen Sie als Sicherheitsexperte zu solchen Einstufungen?
Leicht ist natürlich relativ. Aber verglichen mit den anderen Viertausendern ist das Lagginhorn sehr wohl einer der leichtesten Viertausender in den Alpen. Aber auch dort kann man – das Unglück vorgestern beweist es – weit abstürzen. Ich kenne keinen Viertausender, wo es nicht auch auf dem Normalweg Stellen gibt, an denen man tödlich abstürzen könnte.