Siegrist: Eiger-Nordwand fast ausgereizt
Hinterstoißer-Quergang, Bügeleisen, Todesbiwak. Mit dem Fernglas saß ich als Zehnjähriger in Grindelwald am Fenster, die Eiger-Nordwand hatte mich in ihren Bann gezogen. Auslöser war „Die weiße Spinne“, Heinrich Harrers Buch, das ich förmlich verschlang. Ich war so fasziniert, dass ich nachts regelmäßig aufstand und die Route nach Biwak-Lichtern absuchte. Am Mittwoch jährt sich die Erstdurchsteigung der Nordwand zum 75. Mal. Die Pioniere leben nicht mehr. Als Letzter der erfolgreichen deutsch-österreichischen Mannschaft, die erst am Berg zusammengefunden hatte, starb Harrer im Jahr 2006.
Ich läute Stephan Siegrist an. Der 40 Jahre alte Extrembergsteiger aus der Schweiz hat eine besondere Beziehung zur Eiger-Nordwand. 29 Mal hat er sie bereits durchstiegen, mit seinem Landsmann Ueli Steck zwei extrem schwere neue Routen eröffnet – und war auch auf den Spuren des Quartetts von 1938 unterwegs.
Stephan, vor 75 Jahren haben die beiden Deutschen Anderl Heckmair und Ludwig Vörg sowie die beiden Österreicher Heinrich Harrer und Fritz Kasparek erstmals die Eiger-Nordwand durchstiegen. Wie beurteilst du diese Leistung?
Das ist für mich nach wie vor etwas vom Größten, das jemals in den Alpen gemacht wurde. Man muss sich vorstellen, dass die Belastung sehr groß war. Sie wussten, dass vor ihnen viele umgekommen sind. Dazu mit diesem Material die Wand zu durchsteigen, war wirklich heldenhaft.
Vor elf Jahren bist du mit Michal Pitelka mit der Ausrüstung von 1938 durch die Wand geklettert. Haben diese Erfahrungen euch die Augen geöffnet für die Leistung dieser Pioniere?
Ich hatte natürlich auch schon zuvor großen Respekt vor den vier Erstbegehern. Aber nach dieser Erfahrung mit dem Material von damals ist der Respekt noch mehr gestiegen.
Wo liegen denn im Vergleich zu heute die großen Unterschiede beim Material?
Für die Erstbegeher war das damals sicher das Topmaterial. Aber die Hanfseile waren dreißig Meter lang und hatten nur eine Haltekraft unter 400 Kilo, für uns heutzutage gilt das fast als lebensgefährlich. Die Schuhe waren nur mit Gummi und kleinen Nägeln versehen. Die Kletterer hatten schlechte Steigeisen, dazu die klassischen Eispickel, ohne Zacken vorne. Dann die Karabiner von damals, keine Helme, nur Hüte und Mützen. Von A bis Z ist es für uns heute kaum noch vorstellbar, damit bergzusteigen.
Auch heute wird die Nordwand noch von vielen gerne als „Mordwand“ bezeichnet. Ist das nicht ein bisschen übertrieben?
Ja, das kann man sicher sagen. Zum Glück ereignen sich heutzutage in der Eiger-Nordwand kaum noch tragische Unglücke. Man kann sie in dieser Hinsicht auf eine Stufe mit anderen schweren Wänden in den Westalpen stellen.
Wo liegen die besonderen Gefahren der Wand?
Wenn wir, wie jetzt gerade, Temperaturen von 30 Grad haben, müssen wir immer mit Steinschlag rechnen. Die Wand ist lang, man muss also körperlich fit sein, sich in Fels und steilem Eis auskennen. Bei den meisten kommt noch ein Biwak dazu, wo man nicht gut schläft. Es ist also eine Ganzkörper-Belastung, die man nicht unterschätzen darf.
Haben sich die Gefahren – Stichwort Klimawandel – in den letzten Jahren vielleicht verschoben?
Auch früher gab es in der Wand schon Steinschlag. Was sich geändert hat, ist die Jahreszeit, in der man die Wand begeht. Heute steigt man häufiger im Winter oder im Frühling ein, wenn noch viel Schnee in der Wand liegt, so wie das 1938 noch im Juli der Fall war. Insofern haben sich die Bergsteiger den veränderten Verhältnissen angepasst.
An so genannten „Modebergen“ wie dem Everest oder auch dem Mont Blanc versuchen sich auch Menschen, die eigentlich gar nicht die Fähigkeiten dazu haben. Gilt das auch für die Eiger-Nordwand?
Es ist glücklicherweise nicht so, weil man weiß, dass in der Wand technische Herausforderungen warten. Entsprechend steigen in der Regel doch nur Bergsteiger in die Wand ein, die wissen, dass sie diese Fähigkeiten besitzen.
Stephan Siegrist über die Anforderungen für die Eiger-Nordwand
Du bist 29 Mal durch die Eiger-Nordwand gestiegen, hast dort auch neue Routen eröffnet, bist frei geklettert. Was zieht dich immer wieder in diese Wand?
Für mich ist die Wand nach wie vor spektakulär, auch mit Blick darauf, was sie an Schwierigkeiten bietet. Der Eiger ist ein schöner Berg und für mich dazu leicht erreichbar. Deshalb bin ich gerne in dem Gebiet unterwegs, speziell in der Nordwand.
Die Wand ist leicht einsehbar, fast wie eine große Bühne. Touristen haben ihre Ferngläser und Objektive darauf gerichtet. Fühlt man sich dort als Bergsteiger wie auf dem Präsentierteller?
Sobald du in der Wand bist, bist du eigentlich in einer anderen Welt. Du kriegst kaum was von den Touristen mit, viel mehr von der Umgebung. Du hörst die Kuhglocken, siehst die Bergbahn (Anm. zur Kleinen Scheidegg) auf und ab fahren. Das Gefühl, das du beobachtet wirst, hast du nicht – auch wenn es eigentlich so ist.
Heckmair und Co. brauchten etwa drei Tage für die Erstbesteigung. Seit 2011 liegt der Rekord, aufgestellt vom Schweizer Daniel Arnold, bei zwei Stunden und 28 Minuten. Ist das Ende der Fahnenstange erreicht?
Das geht mit Sicherheit noch weiter. So ein Wettkampf hört nicht einfach auf. Aber es ist ja nicht so, dass man einfach morgens in die Wand einsteigt und einen Speedrekord versucht. Es muss einen Plan geben, und der muss entsprechend gut vorbereitet sein.
Abgesehen von diesen Geschwindigkeitsrekorden, welche neuen Herausforderungen birgt die Wand noch?
Für mich persönlich hat die Nordwand jetzt so viele Routen, dass es kaum noch eine eigenständige, logische Linie gibt, die man eröffnen kann. Sicher wird es noch die eine oder andere Variante geben, weil die Eiger-Nordwand eben medienträchtig ist. Aber so richtig tolle Touren sind kaum mehr denkbar.
P.S. Mehr von Stephan Siegrist findet ihr übrigens in seinem tollen Bildband „Unterwegs zwischen Himmel und Erde“, zu dem auch Thomas Ulrich, der Expeditionsleiter unserer Last-Degree-Expedition 2009 zum Nordpol, einige beeindruckende Fotos beigesteuert hat.