Siegrist: „Abenteuer, verbunden mit Leistung“
Da sage einer, es gebe nichts mehr zu entdecken. Die Schweizer Bergsteiger Stephan Siegrist, Dres Abegglen und Thomas Senf haben in diesem Herbst bei ihrer Expedition in Nordindien gleich drei knapp unter 6000 Meter hohe, formschöne Berge erstbestiegen: den Bhala (auch „Spear“, also Speer genannt, 5900 Meter), den Tupendeo (5700 Meter) und den Te (übersetzt „Kristall“, 5900 Meter), jeweils auf anspruchsvollen Routen. Das indische Kaschmir gilt noch immer als Geheimtipp unter Bergsteigern. Wegen des Konflikts mit Pakistan war die Bergregion lange für ausländische Besucher gesperrt, erst 2003 wurde sie wieder geöffnet. „Man hat das Gebiet schlicht ein bisschen vergessen“, erzählt mir Stephan Siegrist. Der 42-Jährige Spitzenbergsteiger hat sich in den letzten Jahren fast schon zum Kaschmir-Experten gemausert.
Stephan, drei Erstbesteigungen bei einer einzigen Expedition, das können nicht viele Bergsteiger von sich behaupten. Hattet ihr einfach einen Lauf?
Die Motivation war wirklich sehr hoch. Die ersten zwei Gipfel gelangen uns relativ schnell. Es ist ein großer Vorteil, dass die Akklimatisationsphase bei Höhen bis 6000 Meter wesentlich kürzer ist, sogar eigentlich fast ausfällt. Das Wetter hat auch mitgespielt.
Wie kam es, dass ihr gleich drei Berge angegangen seid?
Zuerst haben wir den Spear bestiegen, von dem wir von der Nordseite aus ein Bild hatten. Er war technisch wesentlich einfacher, als wir uns das vorgestellt hatten. Dann wollten wir auch gerne auf dem Tupendeo stehen. Wir hatten noch Zeit, das Wetter war gut. Also haben wir es drei Tage später versucht und hatten Erfolg. Es stellte sich heraus, dass es genau der Berg war, der uns im letzten Jahr, als wir am Kishtwar Shivling waren, aufgefallen war und den wir von dort aus fotografiert hatten. Nach diesen zweieinhalb Wochen endete das gute Wetter und es schneite eine Woche lang. Aber wir hatten immer noch Zeit, wir hatten uns für die Expedition sechs Wochen frei genommen. Weiter hinten im Tal gab es noch einen weiteren sehr ästhetischen, markanten Berg, den „Kristall“. Unser vorrangiges Ziel war nicht der Hauptgipfel, sondern eben dieser Kristall. Der hat von allen Seiten steilen Fels, bis oben dann der Schneegipfel kommt. Wir haben diesen Gipfel bestiegen, anschließend abgeseilt und dann erst den Hauptgipfel bestiegen.
Das klingt nach echtem Abenteuer. Habt ihr euch auch als Entdecker gefühlt?
Ja, genau daran sind wir drei interessiert. Es geht uns nicht nur um die Leistung, sondern auch um das Abenteuer, das Erlebnis. Wir haben nicht nach den möglichst einfachen Routen gesucht, es hätte durchaus einfachere gegeben. Wir wollten uns auch testen. Dann kann es auch mal passieren sein, dass es in die Hose geht. Ich denke, wir sind eher auf der Entdeckerschiene, wo es auch noch Leistung dazu braucht.
Es gibt in dem abgeschiedenen Tal nur ein Dorf. Ich nehme an, dass dort nicht allzu häufig westliche Bergsteiger auftauchen. Wie haben euch die Menschen aufgenommen?
Das Abenteuererlebnis ist an Orten wie dort im Dorf Kaban noch sehr ausgeprägt. Vor allem die Kinder sehen ja wahrscheinlich zum ersten Mal überhaupt solche Westler mit komischer Kleidung und Ausrüstung. Wir versuchen, uns immer ausreichend Zeit für diese Kontakte zu nehmen. Wir hatten einen Verbindungsoffizier mit dabei, der ihre Sprache spricht. Die Leute sind extrem hilfsbereit. Du wirst sofort eingeladen, im Dorf zu essen und zu schlafen. Die Menschen interessieren sich auch dafür, was du machst. Sie können aber nicht ganz nachvollziehen, warum du jetzt auf diesen oder jenen Gipfel steigen willst.
Ihr wart ja im indischen Kashmir unterwegs, einer Gegend, die sicher auch deshalb so verlassen ist, weil es sich um ein politisches Konfliktgebiet handelt. Habt ihr euch keine Sorgen um eure Sicherheit gemacht?
Ich war jetzt seit 2011 schon zum dritten Mal in der Region. Es gibt dort die drei Religionsrichtungen, die alle in ihren jeweiligen Tälern absolut friedlich leben. Auf unserer Rückfahrt hat es jedoch wieder einen Konflikt zwischen Moslems und Hindus gegeben. Du musst einfach wissen, dass du in einer nicht ganz stabilen Region unterwegs bist. Wenn du dich nicht arrogant, sondern ganz normal und zurückhaltend verhältst, kannst du davon ausgehen, dass du als Besucher aus dem Westen und Christ nicht davon betroffen bist. Aber es ist nicht mehr wirklich gefährlich. Da ist es in Kathmandu nicht weniger gefährlich. Ich würde sogar mit meiner Familie dorthin fahren.
Im letzten Jahr habt ihr das Ziel für dieses Jahr ausgeguckt. Habt ihr denn schon ein neues Ziel für 2016 entdeckt?
Es gibt im Norden noch sehr interessante Berge.
Daraus schließe ich, dass du nicht zum letzten Mal dort warst.
(Lacht) Das ist sehr gut möglich.