Allein am Berg
Wir sind privilegiert. Das wurde mir gestern Abend richtig bewusst. Ausgerechnet gestern Abend, als ich vom Aufstieg nach Lager 2 völlig am Ende meiner Kräfte ins Zelt in Lager 1 kroch. Es war nur eine kleine Begebenheit, die mir die Augen öffnete. Ich sammelte im Zelt in einer Plastiktüte den Müll, den Sven und ich während der beiden Tage am Berg produzierten. Gestern Abend lagen dabei nun gelbe Verpackungsbänder, die ich vorher noch nicht gesehen hatte. „Die habe ich vom Berg mitgebracht“, klärte mich Sven auf. Ich schaute mir die Bänder genauer an. Eine Emailadresse aus Korea? „Bedeutet das, dass die Koreaner schon vor uns am Kokodak Dome waren?“, fragte ich leicht irritiert. Sven musste lachen: „Nein, das waren die Bänder, mit denen unsere Fixseile zusammengezurrt waren.“ Ich atmete durch. Wir sind also doch allein am Berg.
Größte Schwierigkeiten bewältigt?
Das wäre es noch: Wir strampeln uns ab, um diesen 7129 Meter hohen Berg erstmals zu besteigen und finden am Gipfel einen Zettel vor: „Ätsch, wir waren schon hier!“ Noch haben wir uns nicht auf jungfräulichem Gebiet bewegt. Den Weg bis hinauf nach Lager 2 – laut Luis‘ GPS-Messung liegt es auf 6300 Metern – haben vor uns auch die russischen Bergsteiger gewählt, die 2006 den etwas höheren Kokodak Peak erstbestiegen. Erst oberhalb unseres Lagers 2 zweigt ihre Route nach rechts ab. „Ich denke, die größten technischen Herausforderungen haben wir schon bewältigt“, macht uns Luis Mut. „Wenn ich das richtig gesehen habe, legt sich der Berg bald hinter Lager 2 etwas zurück. Dann dürfte das Aufsteigen leichter werden – wenn uns der Schnee keinen Strich durch die Rechnung macht.“
Ganz schön hoch
Schnee ist nicht gleich Schnee. Wenn er sich gesetzt und der Wind die Neuauflage weggeblasen hat, könnten wir hinter Lager 2 relativ zügig Strecke machen und an Höhe gewinnen. Genauso denkbar ist jedoch, dass wir uns durch Neuschneemengen wühlen müssen, die unsere Kräfte übersteigen. Aus der Ferne kann man das nicht erkennen, vom Basislager aus sieht Schnee immer nur weiß aus. Luis hat mir sein Fernglas geliehen. Ich verfolge mit den Augen noch einmal unseren gestrigen Aufstiegsweg nach und versuche, ungefähr die Stelle auszumachen, wo jetzt unser Depotzelt für Lager 2 steht. Ich kann sie nur erahnen. Insgeheim aber denke ich: Wir sind schon ganz schön hoch gekommen.
Schon jetzt viel erlebt
„Wenn ich in zwei Monaten an einem trüben Tag im Büro sitze, hole ich mir einfach diesen Moment zurück“, sagt Churchy, mit dem ich heute ins Basislager absteige. „Wir sind ganz allein in dieser herrlichen Landschaft, an diesem schwierigen Berg. Auch wenn wir den Gipfel nicht erreichen sollten, kann uns niemand nehmen, was wir bisher schon erlebt haben.“ Tag für Tag blicken wir von „unserem“ Berg auf den gegenüber gelegenen Mustagh Ata, einen technisch einfacheren und deshalb sehr beliebten Expeditionsberg, über 7500 Meter hoch. Dort oder auch am nicht weit entfernten Siebentausender Pik Lenin haben sicher wieder viele Gruppen ihre Zelte aufgebaut. Churchy war bereits an beiden Bergen: „Am Pik Lenin mussten einige Bergsteiger bei schlechtem Wetter schnell den Rückzug antreten. Als sie ihre Zelte erreichten, hatten andere sie mit ihren Steigeisen aufgeschlitzt. Das wird uns am Kokodak Dome nicht passieren.“ Mit anderen Worten: Wir sind privilegiert, allein am Berg.
P.S. Wie bereits gestern angekündigt, sammeln wir erst einmal im Basislager Kräfte und diskutieren, wie es weitergeht. Ein erster Gipfelversuch steht im Raum.