Ein Jahr für das Selbststudium
Hellgurds Artikel über das Musikstudium hat mich nachdenklich gemacht: Wie viele junge Menschen haben wohl das Gefühl, dass ihr Studium nicht gefragt ist? Aber auch das was Kathrin in ihrem Artikel über den Schüler Simon schreibt, der Sorge hat nicht versetzt zu werden, macht mich nachdenklich. Das alles erinnert mich an ein Thema, das mit Bildung jenseits der Universität zu tun hat und unter Schulabgängern ziemlich weit verbreitet ist: ein Jahr Auszeit.
So wie ich das verstanden habe, ist es in westlichen Ländern völlig normal ist sich ein Jahr Zeit für sich zu nehmen: Man kann seinen Horizont erweitern, indem man einen Halbtagsjob annimmt oder einfach etwas Neues lernt. Außerdem kann man finanziell unabhängig werden oder einfach nur reisen. Ein weiteres Ziel ist es, in dieser Auszeit seine Zukunft zu planen. Aber warum ist dieses positive Phänomen in vielen Ländern, auch in Russland, so unbekannt?
Also, ich denke es liegt daran, dass die Anzahl der Unis und Hochschulen einfach dramatisch zugenommen hat in den letzten zwei Jahrzehnten. Es scheint, als wäre es schon ein Trend geworden, zu studieren. Wenn du kein Diplom hast oder nicht zur Uni gehst nach der Schule, giltst du als Versager. Aber was ist mit den Leuten, die vielleicht eine Lernschwäche haben oder gar kein Interesse an einer Weiterbildung haben? Für diese Menschen kommen dann vielleicht Handwerksberufe infrage. Das Problem dabei ist nur, dass das Berufsschulsystem in den frühen 1990er Jahren im „neuen Russland“ immer weiter abgebaut wurde. Und es ist echt schwer das wieder aufzubauen. Dabei wäre es so wichtig, wenn wir den Markt nicht übersättigen wollen mit immer mehr Uni-Abgängern, die wenig berufliche Fähigkeiten mitbringen.
Hinzu kommt, dass alle Jungs über 18 Jahre ein Jahr zur Armee gehen müssen. Es gibt Mittel und Wege den Wehrdienst zu verschieben und zur Uni gehen ist einer davon. Die meisten Jungen beenden die Schule mit 17, dann müssen sie sofort an die Uni, ansonsten werden sie eingezogen. Warum nicht doch zur Armee? Man vermutet, dass es in der russischen Armee viel Gewalt gegen junge Wehrpflichtige gibt und dann auch noch Korruption. Die meisten Eltern wollen daher, dass ihre Söhne lieber studieren. Ich frage mich immer wieder, warum man das System der Armee nicht ändert. Das ist doch genau das, was in einer Zivilgesellschaft passiert, wenn man mit der Situation nicht zufrieden ist.
Der dritte Grund, warum es in Russland keine Auszeit gibt nach der Schule, ist Geld. Wer reisen will, braucht Geld, und viele Familien können sich das nicht leisten. Teenager haben in der Regel nicht so viel sparen können, um sich selber zu finanzieren. Die Familien bevorzugen es dann das wenige Geld, das sie haben, in die Ausbildung ihrer Kinder zu investieren. Das Selbststudium ist einfach nicht beliebt. Aber Bob Dylan hat ja schon gesungen „the times, they are a-changing “, die Zeiten ändern sich. Ich hoffe, dass wir das in Russland wirklich mal ändern. Ein Jahr Auszeit bedeutet Erfahrung, bedeutet Unabhängigkeit…bedeutet auch eine reifere Persönlichkeit.