„Die Zukunft der Bildung liegt im Web 2.0“
Die Mitglieder meiner Familie gingen unterschiedliche Wege durch das Bildungssystem. Damit ihr mehr Eindrücke erhaltet, habe ich meinen Cousin, meinen Bruder und meine Cousinen interviewt. In meinem ersten Interview spreche ich mit meinem Cousin Thorsten, 26, der nicht nur in Deutschland zur Schule ging, sondern auch in Kanada auf einem Internat war. Er findet, dass die Schule für eine breite Allgemeinbildung sorgen sollte, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu fördern.
Kathrin: Was machst du zurzeit?
Thorsten: Ich schreibe meine Master-Arbeit im Studiengang IT-Management an der Fachhochschule für Ökonomie und Management – FOM.
Wie finanzierst du dir dein Studium?
Es handelt sich um ein berufsbegleitendes Studium, das mein Arbeitgeber fördert. Das heißt, ich arbeite im Unternehmen, verdiene dort Geld und studiere parallel.
Deine Hochschulzugangsberechtigung hast du aber nicht an einem deutschen Gymnasium erworben.
Richtig. Ich habe an der Bishops-College-School in Kanada mein Abitur gemacht. Das war ein Internat. Zuvor hatte ich eine Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen besucht.
Wenn du deine Erfahrungen an einem kanadischen Internat mit denen an einer deutschen Gesamtschule vergleichst: Was könnte man voneinander lernen?
Ich würde jetzt mal versuchen die Oberstufen miteinander zu vergleichen, auch wenn ich nie eine deutsche Oberstufe besucht habe: Die deutsche hat im Vergleich zu Kanada den Vorteil, dass man wesentlich breiter aufgestellt ist, weil es viel mehr Fächer gibt. Wenn also das Ziel eines Abiturs ist, dass die Schüler ein möglichst großes Allgemeinwissen haben, dann können die Kanadier hier von den Deutschen lernen.
Und in welcher Hinsicht bereiten die Kanadier ihre Schüler deiner Ansicht nach besser vor?
Ich konnte mich ganz gezielt auf ein bestimmtes Studium vorbereiten, in meinem Fall ein MINT-Studium [MINT = Mathematik, Ingenieurwissenschaften, Naturwissenschaften, Technik]. Dort hatte ich im Abitur sechs Hauptfächer, die fast jeden Tag unterrichtet wurden. Sonst hatte ich keine anderen Fächer. Aber ich persönlich denke, dass es viel besser ist, wenn man in der Schule ein breites Grundwissen aufbaut und sich dann im Studium spezialisiert.
Warum?
Weil ich glaube, eine Gesellschaft harmoniert besser, wenn alle einfacher miteinander kommunizieren können. Und auch jeder persönlich profitiert davon. Man kann zu allem eine gewisse Meinung entwickeln.
Hast du denn persönlich das Gefühl gehabt, hier Nachteile zu haben, dadurch, dass dein Schulabschluss so speziell war?
Nein, das würde ich nicht sagen. Durch das Internet kann man sich heutzutage auch selber bilden. Das nutze ich täglich. So weiß ich heute sicherlich mehr, als ich je in einer Schule hätte lernen können.
In Deutschland haben Kinder aus Familien, in denen die Eltern nicht studiert haben, schlechtere Chancen, Abi zu machen oder zu studieren. Was könnte man deiner Meinung nach dagegen machen?
Jedes Schulsystem sollte es bis zum Ende der Schullaufbahn offenlassen, ob man am Ende Abitur macht und studiert oder nicht. Alle Kinder sollten, meiner Meinung nach, in eine Gesamtschule gehen. Eine Schule, die die individuellen Stärken jedes Kindes fördert.
Sollte das Gymnasium also abgeschafft werden?
Nein, es kann ruhig bleiben. Aber wichtig ist, dass alle Kinder so individuell gefördert werden wie möglich. Das muss in allen Schulformen geschehen. Und da kommt es dann drauf an, wie in der Schule unterrichtet wird.
Wie sollte denn deiner Meinung nach unterrichtet werden?
Ich denke, es ist an der Zeit, die Schule von Grund auf neu zu erfinden. Aber das passiert sowieso. Es ist nur eine Frage, ob wir das heute oder morgen tun. Ich denke, durch neue Technologien sind uns ganz neue Möglichkeiten geboten.
An welche Möglichkeiten denkst du da?
Zum Beispiel Fernlernmittel. Damit kann theoretisch ein Fünfjähriger bereits einen Universitätskurs besuchen. Insbesondere denke ich da an Modelle wie die Khan-Academy, die auch schon in Schulen eingesetzt werden.
Was ist die Khan Academy?
Grob gesagt ist es eine Online-Plattform zum Lernen. Kinder können sich dort mit Videos und digitalen Übungen die theoretischen Grundlagen eines Faches erarbeiten. Anschließend wenden sie es in praktischen Gruppenarbeiten, Diskussion usw. an. Die Lehrer verfolgen das alles auf der Plattform. Sie schauen wie jedes Kind vorankommt und erkennen, welche individuelle Unterstützung die Kinder benötigen.
Der Schlüssel zu mehr Chancengerechtigkeit liegt also im geschickten Einsatz von Technologien?
Ja, verbunden mit einem guten Mentorensystem. Die Zukunft der Bildung liegt im Web 2.0 und das Land, das diese Potenziale als erstes nutzen wird, wird als erstes davon profitieren. Zuerst gesellschaftlich und schließlich auch wirtschaftlich.