Gipfelgefühle
Ich bin kein Gipfeljäger. Ich bin gefühlt schon ebenso oft umgekehrt wie ich auf den höchsten Punkten von Bergen gestanden habe. Und nun darf ich mich plötzlich „Erstbesteiger eines Siebentausenders“ nennen? Ich, der vor etwa 15 Jahren noch auf keinem Grat gehen konnte, ohne dass meine Beine vor lauter Höhenangst zu zittern begannen wie eine Nähmaschine? Verrückt. Als wir vor zwei Tagen im Gipfelbereich des Kokodak Dome eine kleine Pause einlegten, trat Hannes aus der Spur in den jungfräulichen Schnee. „Hier hat vor mir noch niemals zuvor ein Mensch gestanden“, verkündete er stolz und zu Recht. Mir war das an diesem Gipfeltag nicht bewusst. Vielleicht war ich zu sehr auf das große Ziel fokussiert, diesen Berg zu besteigen.
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Zurück vom Berg
Nach dem Oben-Sein das Unten-Sein genießen – das gehört zu Bergabenteuern dazu. Wir haben es geschafft, den Großteil unseres Gepäcks aus den Hochlagern abzutransportieren. Wir alle werden die kommende Nacht im Basislager verbringen. Das ist einfach ein Plus an Lebensqualität, vergleichbar einem Einzelzimmer im Hotel. Ich glaube, das kann nur verstehen, wer schon einmal an einer Expedition teilgenommen hat. Wenn du dein großes Ziel erreicht hast, willst du nur noch zurück. Als ich heute morgen meinen Rucksack für den Abstieg aus Lager 2 auf 6300 Metern gepackt habe, steht mein Entschluss fest: Ich will keine Nacht mehr in Lager 1 auf 5500 Metern verbringen. Ich will nur noch herunter vom Berg, egal wie schwer der Rucksack auf meinen Schultern lastet.
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Gipfeltag mit maximalem Erfolg
„Das ist auch eine Premiere für mich“, freut sich Expeditionsleiter Luis. „Alle 13 Teilnehmer am Gipfel, dazu unsere beiden Nepalesen und ich selbst, und das bei der Erstbesteigung eines Siebentausender. Wahnsinn!“ Der Kokodak Dome ist kein weißer Fleck mehr auf der Weltkarte der Berge. Wir haben den 7129 Meter hohen Berg im Westen Chinas am heutigen 24. Juli erstbestiegen. Für alle im Team geht damit ein Traum in Erfüllung. „Es ist besonders schön, dass niemand enttäuscht nach Hause fahren muss.“ Selbst unser Ältester, Richard, stand mit 69 Jahren ganz oben.
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Gipfeltag
7.20 (MEZ) Anruf von Stefan, 20 Meter unterhalb des Gipfels:
Die komplette Gruppe inclusive Luis und der beiden Sherpas hat den Gipfel erreicht!
Stefan ist in der Mitte der Gruppe auf dem 7129 Meter hohen Kokodak Dome angekommen.
Es war sehr stürmisch am Gipfel. Wolken versperrten die Sicht. Aber die schönen Ausblicke hätten sie schon die vergangenen Tage gehabt, sagt er. VN.
Tag der Entscheidung
Bleibt der 7129 Meter hohe Kokodak Dome ein weißer Fleck auf der Berglandkarte oder wird er erstmals bestiegen? Am morgigen Donnerstag fällt die Entscheidung. Nachdem wir alle nach Lager 2 auf 6300 Meter aufgestiegen sind, ziehen Expeditionsleiter Luis und Chhongba Sherpa noch einmal los. Sie erkunden den weiteren Weg, steigen weitere 200 Höhenmeter auf. Nach einer Stunde kehren die beiden zurück und trommeln das gesamte Team zusammen. „Unten war es ziemlich ekelhaft. Da sind wir teilweise bis zu den Knien im weichen Schnee eingesunken“, berichtet Luis. „Aber das ist bei der heutigen Hitze auch normal. In der Nacht sollten unsere Spuren gut anfrieren, so dass wir einen guten Tritt hätten.“ Hinter dieser ersten Steigung lege sich der Hang zurück, ein Plateau mit einer sanfteren Neigung reihe sich an das andere. „Das sieht gut aus“, fasst Luis zusammen. „Ich glaube, wir haben morgen eine gute Gipfelchance.“
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Halleluja, was für ein Tag!
Einen verunglückten Spaziergang hat der großartige Kurt Tucholsky einst das Golfspiel genannt. Er hätte auch unseren heutigen Aufstieg nach Lager 1 meinen können. Natürlich fiel er uns leichter als bei den beiden ersten Malen, weil wir inzwischen besser akklimatisiert sind. Doch ein Spaziergang war es darum noch lange nicht, bestenfalls eben ein verunglückter. Immerhin mussten wir wieder 1200 Höhenmeter überwinden, durch Gletschermoränen wandern, über Bruchgestein und durch weichen Schnee bergauf stapfen. „Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass ich dabei nicht am Limit war“, freute sich Hannes aus meiner Seilschaft. Obwohl wir noch nicht ans Seil mussten, stiegen Churchy, Hannes und ich schon heute gemeinsam auf. Wir haben einfach dasselbe Tempo und senden auch noch auf derselben Wellenlänge. Churchy ist in unserem Trio der Gute-Laune-Bär. Immer wieder juchzt er laut auf oder ruft „Halleluja, was für ein toller Tag!“
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Unruhe vor dem Gipfelsturm
Es ist angerichtet. „Für die nächsten Tage wird eigentlich durchweg schönes Wetter erwartet“, sagt Expeditionsleiter Luis, als wir die Taktik für unseren Gipfelversuch besprechen. „Kaum Niederschläge und verhältnismäßig moderate Temperaturen von minus 16 Grad Celsius am Gipfel, gegen Ende der Woche nur noch minus zwölf bis minus neun Grad.“ Der Wind blase in der Spitze mit 40 bis 50 Stundenkilometern, aber wohl immer nur dann, wenn sich, wie in den letzten Tagen häufiger geschehen, eine Wolke über uns festsetze. „Es gibt keinen Tag, wo es ganz ruhig wäre. Das müssen wir so akzeptieren“, schließt Luis seinen Wetterbericht und kommt zum Wesentlichen: „Wir sind fit, gut vorbereitet. Ich würde vorschlagen, den Gipfelangriff einzuläuten.“
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Allein am Berg
Wir sind privilegiert. Das wurde mir gestern Abend richtig bewusst. Ausgerechnet gestern Abend, als ich vom Aufstieg nach Lager 2 völlig am Ende meiner Kräfte ins Zelt in Lager 1 kroch. Es war nur eine kleine Begebenheit, die mir die Augen öffnete. Ich sammelte im Zelt in einer Plastiktüte den Müll, den Sven und ich während der beiden Tage am Berg produzierten. Gestern Abend lagen dabei nun gelbe Verpackungsbänder, die ich vorher noch nicht gesehen hatte. „Die habe ich vom Berg mitgebracht“, klärte mich Sven auf. Ich schaute mir die Bänder genauer an. Eine Emailadresse aus Korea? „Bedeutet das, dass die Koreaner schon vor uns am Kokodak Dome waren?“, fragte ich leicht irritiert. Sven musste lachen: „Nein, das waren die Bänder, mit denen unsere Fixseile zusammengezurrt waren.“ Ich atmete durch. Wir sind also doch allein am Berg.
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Berg Gnadenlos
„So ein Sch…berg!“ Bei einer kurzen Rast auf 6183 Metern platzt es aus mir heraus, sehr zur Freude meiner Expeditionsgefährten. Seit Stunden quälen wir uns den Kokodak Dome hinauf, ohne einmal durchatmen zu können. Gleich hinter unserem Lager 1, wo wir die Nacht verbracht haben, um uns an die Höhe zu gewöhnen, wartet der erste Aufschwung. So steil, dass unsere bärenstarken nepalesischen Helfer, Singi und Chhongba, dort die ersten Fixseile angebracht haben. Über einen schönen Schneegrat geht es fast gerade aufwärts. Es folgt der nächste steile Hang, der übernächste, kein Ende in Sicht. Der Schnee ist tief und sulzig, an vielen Stellen brechen wir bis zu den Knien in der weißen Pampe ein. Wir tragen alle unsere Expeditionsschuhe mit Steigeisen. Sie verschaffen uns einerseits Sicherheit in Schnee und Eis und sorgen für warme Füße. Andererseits sind die klobigen Schuhe nicht unbedingt Kandidaten für den Preis „Fühl‘ dich wohl mit dieser Sohl‘!“. Und wenn du diese Treter in weiche Schneehänge mit bis zu 50 Prozent Steigung wuchtest, ist der Weg zu einem saftigen Fluch nicht weit.
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Ausgepumpt und wiederbelebt
Langsam kann ich wieder denken. Als ich hier oben in Lager 1 auf 5529 Metern eintraf, fühlte ich mich nur noch wie ein ausgewrungener Waschlappen. Völlig leer gepumpt, nach Luft japsend. Fast 1200 Höhenmeter auf einen Rutsch steckten in meinen Knochen. Ob ich die letzten 300 Höhenmeter alleine geschafft hätte, weiß ich nicht. Für mich war es eine große Hilfe, dass Eva-Maria, Churchy und Volker mit mir aufstiegen. Eva-Maria hatte einen richtigen Lauf, sie spurte für uns durch den weichen Schnee, als wäre es das Normalste der Welt. „Ich bin heute einfach gut drauf“, kommentierte sie ihre starke Leistung lapidar.
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Die wichtigen Männer im Hintergrund
Nicht nur Liebe, auch Bergsteigen geht durch den Magen. Die Qualität der Küchenmannschaft kann unter Umständen über Erfolg oder Scheitern einer Expedition entschieden. Schlechtes Essen schwächt den Körper und vermiest die Stimmung. Eine gute Kost erreicht das Gegenteil. Sollten wir den Gipfel nicht erreichen, liegt es ganz sicher nicht an unserem Küchenteam. Ahmad und Agbar verwöhnen uns Tag für Tag im Basislager mit kulinarischen Köstlichkeiten. Dafür verbringen die beiden praktisch den ganzen Tag im Küchenzelt. Sie schneiden Gemüse und Fleisch für die Mahlzeiten, kochen Nudeln, Reis und Eier, backen Teigtaschen oder andere Leckereien. Muhammad, unser „Basecamp Manager“, wie er sich selbst nennt, packt an, wo Ahmad und Agbar Hilfe benötigen, etwa beim Servieren, Abräumen und Spülen.
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Lager 1 erreicht
5529 Meter. Das klingt banal, wenn das Ziel ist, einen 7129 Meter hohen Berg erstmals zu besteigen. Meine Beine sagen etwas anderes: „Genug für heute, gönne uns endlich ein bisschen Ruhe!“ Sie haben recht. Es war ein anstrengender Tag. Um sechs Uhr früh klingelte der Wecker in unseren Zelten. Allzu spät wollten wir nicht aufbrechen. Schließlich mussten wir noch Wasser kochen, frühstücken und alle Zelte abbauen. Luis hatte das Ziel ausgegeben, nach der Nacht im Zwischenlager auf 4850 Metern möglichst viel Material in unser geplantes Lager 1 zu schaffen.
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Erstmals über 5000 Meter
Verdammt, nicht jetzt! Gerade habe ich aus dem Gletscherbruch ins sanft ansteigende Gelände gequert, da bildet sich mein Schlafsack ein, er sei ein Fußball. Er rutscht aus dem Rucksackdeckel und hüpft munter bergab. Instinktiv rase ich hinterher. Mit dem schweren Gepäck auf dem Rücken und den klobigen Expeditionsschuhen an den Füßen sehe ich wahrscheinlich aus wie ein Michelin-Männchen beim Joggen. 20 Meter tiefer habe ich den blöden Sack eingeholt und stoppe ihn mit dem rechten Fuß. Auf etwa 4400 Metern wirkt so eine Sprinteinlage mit Gepäck, als hätte dir jemand den Sauerstoffhahn zugedreht. Ich schnappe nach Luft und brauche ein, zwei Minuten, bis sich mein Puls wieder beruhigt hat und ich gleichmäßig atme. Immerhin war ich schneller als der Schlafsack. Andernfalls hätte ich noch gut 100 Meter tiefer steigen können, ehe seine Talfahrt im abflachenden Gelände ein Ende gefunden hätte.
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Seilübung am Weltmeistertag
„Im Schlaf sind wir noch nie Weltmeister geworden“, stellt Jan beim Frühstück fest. Als sich die deutsche Fußballnationalmannschaft in Rio de Janeiro mit einem 1:0-Sieg nach Verlängerung gegen Argentinien den Weltmeistertitel holt, liegen wir noch sanft in Orpheus‘ Armen. Irgendwann gegen halb sechs Uhr früh werde ich einmal kurz wach und zwinge mich, auf mein Telefönchen zu sehen. Per SMS hat mich meine Familie über den Ausgang des Endspiels informiert. Mit einem seligen Weltmeisterlächeln im Gesicht drehe ich mich um und schlafe noch eine Runde. Die Euphorie über den WM-Titel hält sich in Grenzen. Irgendwie hat fast jeder damit gerechnet, dass Jogis Jungs nach der 7:1-Gala gegen Brasilien auch die Gauchos aus Argentinien besiegen. „Die Deutschen haben es verdient – so oft, wie die bei den letzten Weltmeisterschaften im Halbfinale gestanden haben“, findet auch Churchy, einer unserer Österreicher. Wir haben doppelten Grund, uns über den WM-Sieg zu freuen. Mit dem Erfolg der deutschen Mannschaft hat auch Expeditionsleiter Luis seine Wette gegen den Leiter der lokalen Partner-Trekkingagentur gewonnen. Letzterer hatte versprochen, uns nach der Rückkehr vom Kokodak Dome nach Kashgar in ein Vier- statt in ein Drei-Sterne-Hotel einzuquartieren, sollte Deutschland Weltmeister werden.
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Näher heran
Ich bin auf dem Mont Blanc. Gewissermaßen. Nur, dass ich nicht auf dem Gipfel des höchsten Bergs der Alpen stehe, sondern irgendwo in der Mitte des Kokodak Dome auf einem Felsblock sitze: 4867 Meter hoch (dort, wo auf dem Bild der weiße Pfeil zu sehen ist). Der vermeintliche Ruhetag gestaltet sich aktiver, als ich vorher gedacht hatte. „Heute machen wir ein kleine Wanderung“, kündigt Expeditionsleiter Luis beim Frühstück an. „Wir erkunden den besten Weg vom Basislager zum Einstieg in unsere Aufstiegsroute. Ganz locker, niemand sollte sich überanstrengen. Einfach nur, um uns besser zu akklimatisieren.“ Aus der lockeren Wanderung wird eine Sechs-Stunden-Tour.
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